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Grosser Interpretationsspielraum

Peter Grunder – 07. September 2017
Weltweit gilt die Schweizer Berufsbildung als Erfolgsmodell, und auch in der Schweiz rühmt man es. Doch mit Modellen und mit Lob ist es nicht getan.

«Grundsätzlich sind wir mit der Stossrichtung einverstanden», sagt Daniel C. Jung, stellvertretender Direktor von GastroSuisse und Leiter Berufsbildung und Dienstleistungen (vgl. auch Seite 2). Die Stossrichtung stimmt laut Jung «insbesondere auch deswegen, weil wir mit unserem Aus- und Weiterbildungskonzept im Gastgewerbe weitestgehend die enthaltenen Ansprüche erfüllen». So ist die gastgewerbliche Berufsbildung bereits mehrstufig, was auch für Erwachsene flexible Einstiege möglich macht. Und die Ausbildung ist nach Möglichkeit modular aufgebaut, was es ermöglicht, verschiedene Lernbiografien individuell zu berücksichtigen und Lernleistungen anzurechnen. Indes ist alle Theorie grau, und Jung nahe an der Praxis: «Die wirklichen Probleme können kaum mit einem noch so schön formulierten Leitbild gelöst werden, weshalb wir als Pragmatiker den Nutzen dieser ganzen Übung relativieren», stellt er klar: «Der Interpretationsspielraum dieses Leitbildes ist derart gross, dass der Kampf erst in der nachgelagerten Phase einsetzen wird, wenn es konkret um die Weiterentwicklung der Gesetzgebung geht.» Was die Praxis anbelangt, ist Andreas Steger ebenfalls sehr nahe dran (vgl. Seite 20). Diesen Sommer hat er die Lehre als Koch EFZ ab­geschlossen und sein Fazit ist nicht nur erfreulich: «Wenn die Beteiligten besser zusammenarbeiten würden, wäre die Situation sicher besser», nennt er einen grundsätzlichen Mangel. Auch was die Schule angeht, sieht er Verbesserungs­bedarf: «Man sollte mehr übers Kochen lernen und weniger Themen behandeln, die wenig damit zu tun haben.» Kommt die Perspektive des Bundes zu derjenigen des Jungkochs und des Ausbildungschefs des wichtigsten Branchenverbandes hinzu, verstärkt sich das Unbehagen. So fehlen im Leitbild Berufsbildung 2020, das als Entwurf vorliegt (vgl. Kasten), schlicht die zentralen Akteure: Weder Lernende noch ­Berufsbildungsverantwortliche kommen im Entwurf vor. Der Hinweis auf dieses Fehlen zentraler Akteure sei «von Relevanz», räumt das verantwortliche Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) auf Anfrage von GastroJournal ein: «Selbstverständlich war es nicht unsere Absicht, mit den gewählten Formulierungen den beiden Gruppen ihre Wichtigkeit abzusprechen». Indes betreffe das Leitbild zur Berufsbildung 2030 «nicht nur Lernende der beruflichen Grundbildung», sondern etwa auch Studierende der höheren Berufsbildung. «Mit den gewählten Formulierungen haben wir bewusst die Breite des Ziel­publikums hervorgehoben.» Allerdings sei bei «der Finalisierung des Dokuments tatsächlich ein Fehler unterlaufen, welchen wir erst nach dem Versand festgestellt haben», führt das SBFI weiter aus. Beispielsweise müsse in der sechsten Leitlinie «klar die Rede von ­Berufsbildungsverantwortlichen sein» (vgl. Kasten). Diese Anpassung werde «im Rahmen der Bereinigung mit Sicherheit vorgenommen». Damit ist klar: Das Leitbild, dessen Tonalität an den «Lehrplan 21» der Volksschulen erinnert, ist nicht in Stein gemeisselt. Vielmehr laufen zurzeit die Konsultationen, an ­denen sich auch GastroSuisse beteiligt. Die Eingabefrist läuft bis Ende September, und öffentlich haben sich bislang erst vereinzelt Akteure gemeldet. Hans-Rudolf Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbe-Verbandes (sgv), ist einer davon: Der Entwurf sei «sehr unbefriedigend, zu allgemein und wenig visionär», liess er verlauten. Der Bund wehrt sich, das Leitbild formuliere Standards, aber nicht Massnahmen. Ähnlich wie beim Lehrplan 21 werden die verschiedenen Positionen nicht alle vereinbar sein. Aber zu hoffen ist immerhin auf Einigkeit darüber, um wen es geht: nämlich um die Praktikerinnen und Praktiker bei den Be- rufsverbänden, in den ­Berufsschulen und vor allem in den Betrieben. Das wird nicht einfach, wie René Will, Leiter Berufsbildung beim Verband Swissmem, jüngst öffentlich klargemacht hat: «Die Unverbindlichkeit der Leitlinien wird ein Prüfstein für die Funktionsfähigkeit der vielgelobten Verbundpartnerschaft.» _____________________________________________________________________ Vision und Mission 2020: der Entwurf des Bundes Vision

  • Die Berufsbildung sichert den ­Wohlstand der Schweiz.
  • Sie wird primär von der Wirtschaft getragen und ist das wichtigste ­Angebot zur Qualifizierung für den Arbeitsmarkt.
  • Die Berufsbildung ist attraktiv und steht allen offen.
  • Sie ermöglicht in jeder Lebensphase und Lebenssituation Perspektiven für die individuelle Entwicklung.
  • Die Berufsbildung überzeugt ­national und international.
  • Sie ist in der Praxis verankert, breit abgestützt und in der Gesellschaft anerkannt.
Mission
  • Die Berufsbildung ist ein zentraler Teil der Bildungslandschaft. Sie ­richtet
_____________________________________________________________________ Strategische Leitlinien 2030: der Entwurf des Bundes 1. Die Berufsbildung befähigt Menschen nachhaltig für den Arbeitsmarkt.
Wir gestalten eine Berufsbildung, die Jugendlichen und Erwachsenen mit unterschiedlichen Voraussetzungen den Einstieg in die Arbeitswelt ermöglicht und ihnen die Perspektive bietet, sich lebenslang zu entwickeln. 2. Die Berufsbildung vermittelt bedarfsgerechte Kompetenzen.
Wir etablieren für jedes Bildungs­angebot den optimalen Mix aus ­berufsspezifischen und berufsübergreifenden Kompetenzen und allgemeiner Bildung. 3. Die Berufsbildung fördert individuelle Lernwege und Laufbahnentwicklungen.
Wir sind offen für lineare und nicht lineare Bildungsbiografien und erkennen formal, nicht formal sowie informell erworbene Kompetenzen angemessen an. 4. Die Berufsbildung ist horizontal und vertikal durchlässig.
Wir verknüpfen die Angebote der beruflichen Grundbildung und der höheren Berufsbildung eng miteinander und stimmen sie mit anderen ­Bildungsangeboten ab. Sie ermöglichen auf jeder Stufe horizontale und vertikale Entwicklungen. 5. Die Berufsbildung ist flexibel.
Wir konzipieren individuelle und marktgerechte Bildungsangebote und schaffen anpassungsfähige Strukturen. So können neue Bildungsinhalte und Bildungsangebote zeitnah und einfach integriert werden. 6. Die Berufsbildung setzt qualitative Massstäbe.
Wir streben an allen Lernorten und auf allen Bildungsstufen optimale Qualität an. Berufsbildende und Lehrpersonen wenden neueste Methoden und Techniken an und arbeiten lernortübergreifend zusammen. 7. Die Berufsbildung ist stets auf dem neuesten Stand.
Wir erkennen Trends und Entwicklungen rechtzeitig und handeln vorausschauend. Die Innovationen aus der Praxis, die Erkenntnisse der Forschung und der Austausch mit anderen Ländern liefern wichtige Grundlagen für unser Handeln. 8. Die Berufsbildung wird national und international anerkannt.
Wir sorgen dafür, dass die Öffentlichkeit den gesellschaftlichen und ökonomischen Wert der Berufsbildung versteht und sich dafür engagiert. Die Absolventinnen und Absolventen der Berufsbildung werden national und international nachgefragt. 9. Die Berufsbildung ist bekannt und wird verstanden.
Wir befähigen die Zielgruppen, die Chancen und Möglichkeiten der ­Berufsbildung zu erkennen und sich im System zu orientieren. Individuen aber auch Unternehmen haben ­Zugang zu Information, Beratung und Begleitung. 10. Die Berufsbildung ist effizient strukturiert und solide finanziert.
Wir verteilen Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen fair und transparent auf Bund, Kantone und Wirtschaft und sorgen für eine sichere ­Finanzierung. Dank effizienter Struk- turen ist die Berufsbildung für alle ­Akteure ein Gewinn.