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Ein bisschen Licht und Wärme

Corinne Nusskern – 05. Dezember 2019
Vor den Festtagen setzen sich in der Branche viele für Bedürftige ein: eine schöne Geste. Die Randständigen-Weihnacht im Zürcher Fünf­sternehotel Marriott ist wohl der bekannteste Anlass dieser Art. Hoteldirektor Daniel Lehmann ist seit Jahren mit Herz dabei.

Die Vorfreude ist immer gross. Sehr gross. Manche stehen schon morgens um zehn Uhr beim Konferenzeingang an der Walchestrasse des Zürcher Fünfsternehotels Marriott und warten geduldig, weil sie Angst haben, keinen Platz mehr zu bekommen. Die Randständigen-Weihnacht findet am Sonntag, 8. Dezember, bereits zum 16. Mal in Zu­sammenarbeit mit dem Sozialwerk Pfarrer Sieber statt. Wenn sich um 12 Uhr die Türen öffnen, strömen bis zu 600 Menschen in die zwei Säle. Der Hoteldirektor Daniel Lehmann (53) richtet das weihnächtliche Fest zum zwölften Mal aus. «Wir haben zwei Ballsäle nebeneinander, aber die Reden und die Musik und alles was passiert, spielt nur im grossen Saal, da wollen alle sitzen, aber es passen nur 400 hinein. Im andern Saal wird es live übertragen.»
Die Gäste sind Menschen, die in der Gesellschaft zu kurz kommen – und während der Adventszeit noch mehr ver­ges­sen gehen. An den festlich gedeckten Tischen treffen sich Obdachlose, Alkoholabhängige, Familien, alleinstehende Mütter und ihre Kinder, Punks und Junkies, Rollstuhlfahrer sind dabei und geis­tig behinderte Menschen. Es befindet sich auch der eine oder andere Stammgast der Randständigen-Weihnacht darun­ter. «Im Laufe der Jahre habe ich einige kennengelernt und man begrüsst sich mit Namen», sagt Lehmann. «Ah, bist du auch wieder hier.» Kleider machen Leute?
Alle Altersklassen sind vertreten, viele Kinder, die so etwas nicht jeden Tag sehen und ganz grosse Augen machen. Den meisten sieht man es nicht an, dass sie im und mit dem Alltag hadern. «Ich sage meinen Mitarbeitern immer: ‹Passt auf, urteilt nicht zu schnell, auch jemand, der sich gut anzieht, kann bedürftig sein.›», erläutert Lehmann. «Manche leihen sich für den Anlass sogar Kleider aus.» Einige Obdachlose reisen mit ihrem ganzen Hab und Gut an. Lehmann lächelt. «Wir haben extra eine grosse Garderobe, damit sie alles abgeben können.» Aus feuerpolizeilichen Gründen dürfen sie die Taschen und Einkaufswagen nicht mit in den Ballsaal nehmen. «Viele trennen sich schwer von ihren Sachen.» Gleich daneben, im Eingangsbereich, steht eine ganze Batterie an Hunde­näpfen, denn der beste Freund des Menschen darf mit hinein.
Es war Pfarrer Ernst Siebers Intention, damals vor 16 Jahren, an Weihnachten etwas für Randständige zu tun. Wer auf wen zuging, ist heute nicht mehr genau rekonstruierbar. Walter von Arburg (55), Kommunikationsbeauftragter des Zürcher Sozialwerks Pfar­rer Sieber, ist zum siebten Mal mit dabei und sagt dazu: «Im Rahmen des sozialen Spirits der amerikanischen Hotelkette Marriott soll Lehmanns Vorgänger Ernst Sieber zu einem Gespräch eingeladen haben, und sie wurden sich wohl schnell handelseinig.» «Wir wollen etwas zurückgeben»
Den Grundstein zum heute grössten Hotelkonzern der Welt legte die Familie Marriott 1927 mit einem Restaurant in Wahington D.C. Der Konzern ist noch immer in Familienhand. Jedes der 8000 Häuser hat die Aufgabe, sich im lokalen Umfeld sozial zu betätigen. Der sogenannte «Spirit to serve» gilt nicht nur den Gästen gegenüber, sondern auch der Gesellschaft und der Region, in der das Hotel steht. «Es geht darum, etwas zurückzugeben. Und die Rückmeldungen nach der Randständigen-Weihnacht sind ein wunderschöner Lohn für die Mühe und das investierte Geld», sagt Lehmann.
Es muss sich niemand anmelden, alle sind willkommen. Von Arburg erklärt: «Wir laden ein, da wir den Kontakt zu den Leuten haben. Das passiert mündlich, aber auch via Flyer sowie Plakate in unseren verschiedenen Einrichtungen des Sozialwerks Pfarrer Sieber.» Leider gibt es auch Trittbrettfahrer, das ist nicht auszuschliessen. «Wir fragen niemanden nach seinem Bedürftigkeitsausweis», ergänzt Lehmann. «Wir kommunizieren aber, dass es 600 Plätze gibt, und jeder, der zu Unrecht da ist, nimmt jemandem, der es vielleicht nötiger hätte, etwas weg.» Der Nachmittag startet mit einem alkoholfreien Apéro. Der gesamte Anlass ist alkoholfrei, ein Sicherheitsbe­auf­tragter geht immer wieder durch die Reihen. Sobald er hineingeschmuggelten Alkohol entdeckt, wird dieser im Interesse aller entfernt. Auch ein Dutzend Seelsorger und Sozialarbeiter des Sozialwerks Pfarrer Sieber sind mit im Saal. Sie kennen die Leute und stellen bei Bedarf die Ordnung im Saal sicher. «Es ist sehr emotional. Die Menschen sind sich teilweise nicht gewohnt, so viele Sozialkontakte auf einmal zu haben», sagt von Arburg. Im Grossen und Ganzen verläuft der Anlass friedlich. «Die meisten kommen, um ein paar schöne Stunden zu haben», sagt Lehmann. «Und wegen des Essens». Das Essen: Es ist die absolute Hauptsache an der Randständigen-­Weihnacht. Bis das Buffet eröffnet wird, herrscht eine fühlbare Unruhe in den zwei Sälen. Es ist unmöglich, vor dem Essen die Aufmerksamkeit der Leute zu bekommen.
Wer glaubt, es gäbe Spaghetti Bolognese, irrt. Das Essen soll dem Haus entsprechen, egal wer die Gäste sind. Ob Entrecôte oder Entenbrust – es ist dasselbe Buffet, das Lehmann auch bei einem Anlass der Schweizer Nationalbank aufstellen würde. «Aber es ist nicht ganz einfach. Die Teller werden überladen, obwohl genug da ist. Die Angst, zu kurz zu kommen, bringt man nicht weg», erklärt er. Am Ende dürfen die Gäste das übriggebliebene Essen im Einweggeschirr mitnehmen. Nichts bleibt übrig. «Viele bringen ihre eigene Tupperware mit und füllen diese bereits während des Essens», sagt Lehmann. Die Mitarbeitenden ziehen voll mit
Zwischendrin wirbeln die Mitarbeitenden des Marriotts – alle 60 arbeiten freiwillig mit. Ihre Einbeziehung ist wichtig. Neben den Köchen, Servicemitarbeitenden und dem Bankettservice sind 30 bis 35 Leute aus der Finanz-, Personal- und Verkaufsab­tei­lung im Service tätig, während der Finanzdirektor in die Koch­klamotten steigt. Alle hätten am Sonntag frei. Es wird aber niemand krumm angeschaut, der nicht mitmachen will. Das ist für den Hoteldirektor kein Thema, in der Hotellerie habe man so wenig Freizeit. Lehmann widmet sich an diesem Nachmittag der Pressearbeit und ist da, wo Not am Mann ist oder räumt Tische ab. Auch seine Frau und die drei Söhne helfen mit.
«Es ist ein langer Arbeitstag, den unsere Mitarbeiter für das Gute spenden. Sie erhalten keinen Lohn. Sonst könnten wir uns die Randständigen-Weihnacht gar nicht leisten», sagt Lehmann. Neben den Sachspenden einiger Lieferanten – ohne die der Anlass nicht möglich wäre – beläuft sich der Wareneinsatz des Hotels auf etwa 25 000 Franken. Ein grosser Batzen für einen grossen Anlass.
Ob die Randständigen-Weihnacht dem Hotel wirtschaftlich oder imagemässig etwas bringe, sei nicht messbar. «Man nimmt es in der Branche und in der Gesellschaft wahr, aber ob deswegen ein Gast mehr zu uns kommt, darum geht es nicht», erklärt Lehmann. «Schön, wenn es so wäre. Aber es nicht das Ziel. Ziel ist, zu zeigen, dass das Marriott ein Haus mit Werten ist, und das Image des oft als seelenlos angesehenen amerikanischen Hotelkonzerns in etwas Menschliches zu drehen.»
Die Tische sind eng gestellt. «Es ist eng im Saal, aber es ist auch eine wahnsinnig dichte Atmosphäre», sagt von Arburg. Zusammen mit der festlichen Dekoration, den hohen Weihnachtsbäumen, der grossen Gesellschaft und dem Programm wogt eine wohlige Wärme durch den Saal. Das Unterhaltungsprogramm wird vom Zürcher Sozialwerk Pfarrer Sieber organisiert. «Es gibt eine Andacht von Pfarrer Christoph Zingg, dem Sozialwerk-Gesamtleiter», erklärt von Arburg. «Später spielt eine Ad-hoc-Band Livemusik.» Lehmann erinnert sich an viele Randständigen-Weihnachten mit Sieber: «Die Leute haben ihn gefeiert. Jeder kannte ihn, und er kannte fast jeden und seine Geschichte. Sie standen Schlange, um ihm die Hand zu schütteln. Diese Galionsfigur fehlt heute.» Es rollen auch Tränen
Auf jedem Tisch liegen die Texte von klassischen Weihnachtsliedern auf, man singt zusammen. «Da kommen bei dem einen oder anderen Erinnerungen an die Kindheit und die heile Welt an Weihnachten hoch», erzählt von Arburg. «Die Hoffnung keimt in diesem Moment, jetzt kommt es besser, jetzt kommt es gut.» Die Gäste sind dünnhäutig, es rollen auch mal Tränen. Die Emotionen wiegen generell hoch. «Auch bei den Mitarbeitenden», sagt Lehmann. «Vor allem neue Mitarbeiter fra­gen mich im Vorfeld, was das für ein Anlass sei. Ich sage ihnen nichts, nur dies: Am Abend gehst du glücklich nach Hause und denkst: ‹Wow, bin ich privilegiert, dass ich ein normales Leben leben darf.›» Lehmann bezeichnet seinen Führungsstil als sehr hands-on. Er versucht die Hierarchie flach zu halten, natürlich gebe es auch ernste Gespräche. «Der Spass an der Arbeit soll im Vordergrund stehen. Ich lade jeden neuen Mitarbeiter zu mir ins Büro ein für anderthalb Stunden, um die Erwartungen beidseits zu erklären und wo wir hinwollen», führt er aus. «Es ist ein Miteinander. Wir arbeiten viel, und wir feiern viel.»
Es gibt einen Tag, an dem hat Daniel Lehmann noch nie gearbeitet, das nimmt er sich heraus: der Heilige Abend, seinem Geburtstag. Wäre es nicht wahr, es könnte nicht schöner erfun­den sein. ____________________ Tipps von Daniel Lehmann, um gutes zu tun
«Selbst Hand anlegen würde ich immer bevorzugen. Egal wo und was. Die meisten wünschen oder schicken einen Check. Selbstverständlich ist Geldfluss auch wichtig. Aber wir suchen stets jene Organisationen und Aktivitäten, wo wir uns selbst einbringen und etwas tun können. Mit gespendetem Geld kriege ich keine emotionale Bindung un­se­rer Mitarbeiter hin. Arbeiten sie jedoch freiwillig an einer Randständigen-Weihnacht und haben direkt mit den Leuten Kontakt, dann ist das etwas ganz anderes. Nur die persönliche Beziehung zum Projekt und dessen Langfristigkeit schaffen diese Bindung und den Rückhalt im Hotel und im Team.»
____________________ Hoteldirektor Daniel Lehmann Daniel Lehmann (53) ist seit elf Jahren Direktor des Fünfsterne- hotels Marriott in Zürich. Den «Spirit to serve» seines Arbeitgebers lebte er bereits während 14 Jahren als Hoteldirektor in Stuttgart und München, wo er die Unterstützung eines Kinder- heims in Rumänien initiierte. Seither trägt er Sachspenden zusammen und fährt jeden Sommer mit Kollegen 3500 Kilo- meter mit Sprinter-Lastwagen nach Rumänien. Neben der Aus- richtung der Randständigen-Weihnacht sammelt er mit seinen Mitarbeitenden öfters Müll an der Limmat ein. Lehmann stammt aus Freiburg im Breisgau, ist gelernter Koch und Absolvent der Hotelfachschule Heidelberg. Ehe er zu Ma­rriott stiess, arbeitete er in Hotels in Deutschland und Mexiko. Er ist verheiratet, hat drei Söhne (19, 18, 16), fährt gern Velo und Ski und ist passionierter Segler. Reist er privat, zieht er ein einfaches Hotel vor, um mehr Geld für einen guten Rotwein und ein schönes Essen zu haben.
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