Gastronomie

«Wir streben eine Dreidimensionalität der Weine an»

Reto E. Wild – 15. Juli 2020
André Macionga gilt als Parfumeur der Weine. Der 36-jährige Chefsommelier von Sternekoch Tim Raue kreiert mit Winzern Spitzenweine für den Einsatz in der Gastronomie. Der Berliner über seine revolutionäre Idee, Marriagen und neue Projekte.

André Macionga, Sie cuvetieren Ihre Weine mit Winzern. Reicht Ihnen eine Traubensorte nicht?
André Macionga: Doch, manchmal reicht eine Sorte aus. Meine Idee dahinter ist nicht, eine Rebsorte oder eine Lage in den Vordergrund zu stellen, wie das die meisten Spitzenwinzer tun. Mir geht es vielmehr darum, aus verschiedenen Charakteren und Lagen ein Bild zu kreieren, das einzigartig ist. Was gab den Ausschlag für die Idee?
2011 hat mich Horst Sauer im Restaurant Tim Raue besucht und das Menü mit Weinbegleitung gegessen. Er stellte fest, dass ich bei der Weinauswahl stark auf einzelne Gerichte fokussiere und schaue, dass sich Wein und Essen was geben und nehmen. Danach lud er mich aufs Weingut ein, wo ich nach unzähligen Fass- und Stahltankproben meine eigene Cuvée blind kreierte und weder auf Trauben noch auf Jahrgang achtete. Letztlich wählte ich als Basis jene Traube, die aromatisch am hellsten erschien und fügte kleinere Partner dazu. Mit dieser Cuvée «Es ist, wie es ist» stieg ich in die Welt des Cuvetierens ein. Ich bin kein Winzer und sehe mich als Koch, der aus verschiedenen Stilen ein Gericht um das Hauptprodukt kreiert. Welche Traube bildete die Basis?
Es war ein Weissburgunder, der mit relativ viel Botrytis geerntet wurde und sehr laut ausstrahlte. Der Anteil des Weissburgunders an jener Cuvée betrug 40 bis 50 Prozent. Sie hat mich unfassbar emotional berührt; eine wunderbare Symphonie ist entstanden. Was bedeuten diese Cuvées für den Einsatz in der Gastronomie?
Wir haben sie schon zu Beginn ganz klar als Begleiter zum Essen kreiert. Wir arbeiten mittlerweile mit zwölf Winzern zusammen und streben eine Dreidimensionalität der Weine an, also Textur, Säure und Süsse, wobei die Cuvées am Ende immer trocken sind. Sie sind erst dann komplett, wenn sie alle diese Aspekte erfüllen. Welche Marriage geht für Sie gar nicht, obwohl sie teilweise in der Branche als gelungen betrachtet wird?
Mit dieser Thematik setzen wir uns täglich auseinander. Mir geht es darum, ein Bild zu erfüllen, das mich glücklich macht – unabhängig davon, was andere denken. Wenn man hören würde, welche Trauben in den Cuvées wirklich drin sind, würden die meisten Leute denken, ich sei total verrückt. Deshalb wollte ich auch nie die Traubensorten verraten. Letztlich sollen die Weine eine Geschichte erzählen. Da braucht es Restaurantbesucher, die zuhören können. Konkreter gefragt: Rotwein und Käse ist doch eher schwierig. Weisswein lässt sich viel leichter zu Käse kombinieren. Tatsächlich können relativ junge Rotweine aufgrund der Gerbsäure nicht funktionieren, weil sich das mit der Molke nicht verträgt. Aber ich sammle alte Weine und liebe solche, die kurz vor dem Tod stehen, also aus den 30er-, 40er- oder 50er-Jahren. Und ein solcher Gamay macht zu Käse richtig Spass. Was ist denn für Sie die perfekte Harmonie zwischen Wein und Essen?
Es ist diese Dreidimensionalität, bei der das Gericht und der Wein für sich sprechen und in Verbindung ein Bild kreieren, das zusammengefügt besser schmeckt als solo. Das ist dann wie ein exzellentes Musikstück, bei dem man die Augen schliesst und einfach nur geniesst. Sie persönlich ziehen also gelagerte Weine vor?
Ja. Je nach Tagesstimmung liebe ich alte Burgunder, rot oder weiss, und alte Champagner mit möglichst wenig Perlage, sodass ich nur noch den Grundwein schmecke. Ich liebe aber auch gereifte Rieslinge, und ein grosses Hobby von mir sind weisse und rote Riojas. Planen Sie Cuvées mit einem Winzer aus dem Rioja?
Das wollte ich dieses Jahr vorantreiben. Aber Corona hat dieses Projekt verhindert. Im Ausland haben wir momentan zwei Projekte im Rhonegebiet sowie eines in der Champagne. Dort handelt es sich um den kleinen Familienbetrieb Adam-Mereaux, wo wir mehrere Champagner kreieren und diese in Restaurants anbieten. Solche Exklusivweine, bei denen wir selbst die Etikette individuell kreieren, gehören zu unserem Kerngeschäft. Ansonsten arbeiten wir ausschliesslich mit deutschen Spitzenwinzern wie Horst Sauer, Jochen Dreissigacker oder Markus Schneider zusammen. Wo sind die Weine für Schweizer Gastronomen zu beziehen?
Wir sind noch immer auf dringender Suche nach einem Weinhändler, der unsere Weine in der Schweiz vertreibt, denn die Nachfrage steigt enorm. Bis auf Weiteres können Gastgeber die Weine bei uns in Berlin bestellen. Wer sind Ihre Kunden, abgesehen von Tim Raue?
Sieben Feinkosthändler in Deutschland, rund ein Dutzend Restaurants, mit denen wir mit diesen exklusiven Cuvées zusammenarbeiten sowie Konsumenten, die sich ein paar gute Flaschen gönnen. Abgesehen von der Hilda für 18 Euro kostet die günstigste Flasche, der Unartig 2017, 45 Euro. Was macht diese Weine so teuer?
In erster Linie die Tatsache, dass die Weingüter ausschliesslich ihre Top-Weine zur Verfügung stellen. Wir haben nie Projekte mit übrigen Weinfässern, bei denen uns die Winzer fragen, ob wir damit noch was cuvetieren können. Das würden wir nie, nie machen.