Gastronomie
Hotellerie

«Wir müssen wahre Geschichten erzählen»

Caroline Goldschmid – 01. Oktober 2019
Storytelling ist für Restaurants zu einem unverzichtbaren Marketingmittel geworden. Die Kunst des Geschichtenerzählens ist keine Hexerei. Doch sie setzt Leidenschaft voraus sowie die Freude daran, das Wissen mit anderen zu teilen.

«Es war einmal, vor langer Zeit...» Gute Geschichten sind im Gastgewerbe nicht mehr wegzudenken: Denn wer gut erzählen kann, der kann nicht nur seinen Betrieb und sein Knowhow, sondern auch seine Dienstleistungen, Produkte und Werte in den Vordergrund stellen. Man nennt diese Kunst «Storytelling». Der Begriff ist mit dem Aufkommen amerikanischer Start-ups und Anglizismen entstanden, doch die Technik existiert seit Langem. Die goldene Regel dabei lautet: Die erzählte Geschichte muss wahr sein. «Gerade für Gastronomen ist es wichtig, dass sie voll und ganz hinter dem stehen können, was sie ihren Gästen erzählen », erklärt Frédéric Simond: «Natürlich kann man seine Geschichten ein bisschen ausschmücken, aber im Kern müssen sie der Wahrheit entsprechen.» Der 47-jährige Küchenchef hat 2007 mit seiner Mutter das Gemeinde-Gasthaus «Auberge aux 2 Sapins» in Montricher VD übernommen. Davor war er während zehn Jahren stellvertretender Küchenchef von Bernard Ravet im Hotel Ermitage in Vufflens-le-Château (VD). Während dieser Zeit begann er sich intensiver mit lokalen Produkten des Terroirs zu beschäftigen. «Als ich das Gasthaus übernahm und nach passenden Produkten Ausschau hielt, habe ich festgestellt, dass alles in der Nähe zu finden ist: Steinpilze am Jurafuss, eine Mühle und eine Metzgerei in Sévery mit Fleisch aus lokalen Zuchtbetrieben, Gemüse aus Vuillerens… Es ist alles da», sagt Frédéric Simond. Das Terroir, eine geschickt inszenierte Welt Für das eigene Storytelling konzentriert sich die Auberge aux 2 Sapins ganz auf die Themen Waadtländer Jura, Terroir und Hausgemachtes. Dieser Linie bleiben die Gastgeber auch bei der Einrichtung treu: «Für die Renovation des Hauses haben wir mit lokalen Handwerkern zusammengearbeitet und hauptsächlich Holz verwendet», erzählt Simond. Auch die Dekorationselemente sind sehr typisch für die Region: Von Keramiktöpfen über antike Holzschränke bis hin zu Schieferplatten, die mit dem Tagesmenü beschriftet sind. Die Auberge aux 2 Sapins ist nicht nur ein Restaurant, sondern auch ein Drei-Sterne-Hotel mit zehn Zimmern: Diese tragen Namen, die ebenfalls eine Verbindung zur Region haben, zum Beispiel «Léman», «Mont Tendre» oder «Mara des bois». Das Wissen weitergeben Beim Storytelling geht es nicht nur darum, die Gäste an der eigenen Welt teilhaben zu lassen, sondern auch darum, sich mit ihnen auszutauschen. «Ich versuche, mein Wissen und meine Leidenschaft für das Terroir an meine Gäste weiterzugeben », sagt Simond: «Wenn wir zum Beispiel im Restaurant keine Tomaten oder Eglifilets anbieten können, dann erkläre ich den Gästen, dass das eine Entscheidung der Natur sei.» Die Mundpropaganda ist für das Gasthaus zum wichtigsten Kommunikationsmittel geworden: Zufriedene Gäste empfehlen die Auberge aux 2 Sapins weiter, genauso wie Produzenten und Winzer. Denn der Begriff «Terroir» bezieht sich nicht nur auf Nahrungsmittel, sondern auch auf Weine: Das Gasthaus bleibt selbst in diesem Bereich seiner Linie treu und bietet ausschliesslich Schweizer Weine an. Simond möchte sich durch Storytelling hervorheben können. «Die Geschichte, die man seinen Gästen erzählt, muss von Herzen kommen. Wenn sie nur einem aktuellen Trend folgt, wird man sie nicht lange aufrechthalten können. Die Regeln des Storytellings habe ich im Kurs ‹Empfangs- und Geschmacksmarketing› gelernt. Weiterbildung ist für mich etwas sehr Wichtiges. Denn die Welt verändert sich schnell, und Fortbildung hilft uns, mit ihr Schritt zu halten. Zwar fordern die Kurse viel Zeit und Energie, doch sie zahlen sich aus.» Die Weiterbildungskurse, die Frédéric Simond besucht, werden von FMP Formation in Zusammenarbeit mit Gastro- Vaud angeboten. An der Spitze dieses Unternehmens steht Florent Hermann, der Wein und Terroir liebt. Der Marketingexperte organisiert das Schweizer Weintourismustreffen, dessen dritte Austragung im September in Chamoson VS stattfand (siehe GJ38). «Beim Storytelling sprechen Gastronomen über ihre Produkte und ihre Region. Ich finde, dass Frédéric Simond das ausgezeichnet macht! Er setzt sich stark für die Förderung seiner Region ein», betont Florent Hermann. Das echte Leben teilen Der Waadtländer, der regelmässig mit Personen aus dem Gastgewerbe zusammenarbeitet, hat festgestellt, dass nur die wenigsten ihre eigene Geschichte erzählen. «Manche Winzer denken, dass sie nichts zu sagen haben oder dass die Geschichte ihres Weinguts niemanden interessiert», bemerkt er. «Dabei habe ich oft erlebt, dass die Gäste fasziniert sind, wenn der Winzer ihnen von seinem Beruf, dem Alltag in den Weinreben und den Anfängen seines Unternehmens erzählt.» Hermann betont, dass der Schlüssel zu gutem Storytelling darin liege, das «echte Leben» mit den Gästen zu teilen, also von den eigenen Erlebnissen und menschlichen Erfahrungen zu sprechen. «Gäste, die nichts mit Storytelling am Hut haben, gehen ihren Wein im Supermarkt kaufen oder ernähren sich in einem Fast-Food-Lokal. Im Gegensatz dazu sucht der Konsument, der sich von der Grossindustrie distanzieren möchte, den Kontakt zu kleinen Produzenten oder Restaurants.» Jedes Produkt ist eine Geschichte wert Wenn Storytelling einen schlechten Ruf haben sollte, dann nur deshalb, weil viele Menschen Dinge erzählen, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen. «Die gastgewerblichen Berufe sind doch die schönsten!», ist Florent Hermann überzeugt: «In dieser Branche muss man gar keine Geschichte erfinden, denn der Stoff ist bereits vorhanden. Jeder kann etwas Authentisches erzählen, denn jedes Produkt ist eine Geschichte wert.» Das Prinzip ist einfach: «Man muss den Gästen etwas über sich selbst erzählen, den eigenen Beruf erklären, einfach mit ihnen reden. Eigentlich sollte das Wort ‹Storytelling› gar nicht existieren. Denn Gastronomen und Winzer haben ihre Produkte schon seit jeher präsentiert, lange bevor das Wort überhaupt verwendet wurde: Die Winzer haben beispielsweise schon immer die verschiedenen Böden und Mineralien für den Weinbau erklärt. Nun hat man diesem Prozess einfach einen englischen Namen gegeben.» Der Begriff selbst ist nicht so wichtig, das Vorgehen aber umso mehr. Denn Storytelling ist ein Mittel, um sich von der Konkurrenz abzuheben, neue Gäste anzusprechen und Zusatzverkäufe zu generieren. Auch hausgemachte Produkte lassen sich dadurch in den Vordergrund stellen, so wie es bei Küchenchef Simond der Fall ist. «Heute sind die Konsumenten skeptischer geworden und möchten wissen, was in ihrem Essen steckt. Hausgemachte Küche ist zu einem starken Verkaufsargument geworden», betont Florent Hermann. Zum Storytelling passen daher eine kleine Menükarte und eine Erklärung der Küchenphilosophie. Ein weiterer Vorteil sei der menschliche Kontakt: «Wir leben heute in einer Konsumwelt und wissen nicht mehr, woher unsere Produkte stammen. Die Menschen schätzen es daher umso mehr, wenn sie beispielsweise mit dem Metzger über Tierrassen und Aufzucht sprechen können, als wenn sie die Informationen auf der Produktverpackung suchen müssen.» Regionalität und Biodiversität auf hohem Niveau Auch in der Deutschschweiz gibt es Betriebe, welche die Kunst des Storytellings gemeistert haben: Einer davon ist das Landhotel Hirschen im aargauischen Erlinsbach, hart an der Grenze zum Kanton Solothurn. Dieses Hotel-Restaurant hat vor Kurzem den Schweizer Weintourismuspreis 2018 in der Kategorie «Hotel und Gastgewerbe» gewonnen. Der leidenschaftliche Gastgeber Albi von Felten kaufte das Haus 1999 von seinen Eltern und führt es mit seiner Frau Silvana bereits in der fünften Generation. «Früher haben meine Eltern im Restaurant Hummer, Steinbutt und Co. angeboten», erzählt er: «Aber ich esse diese Gerichte lieber dort, wo sie herkommen, nämlich am Meer.»