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«Wir müssen retten, was noch zu retten ist»

Reto E. Wild – 03. April 2020
Der Schweizer Tourismus befindet sich in der grössten Krise seiner ­Geschichte. ST-Direktor ­Martin ­Nydegger erklärt, an welchen Lösungen er im Hintergrund arbeitet und organisiert für die Branche Ende August eine Zusammenkunft in ­Zürich. Denn: «Wir sind nicht für Social Distancing ­gemacht.»

GastroJournal: Martin Nydegger, wie gut schlafen Sie noch?
Martin Nydegger: Ich schlafe gut. Klar, die Tourismusbranche und die gesamte Schweiz befinden sich in einer noch nie dagewesenen Krise. Aber das politische System in unserem Land funktioniert. Ich fühle mich wohl in der Schweiz und bin gerade jetzt froh, in der Schweiz zu wohnen. Wie viele Krisensitzungen hatten Sie dieses Jahr?
Bereits am 24. Januar 2020 gründeten wir eine Task Force, weil die Angestellten unserer vier Büros in China nicht mehr zur Arbeit gehen konnten. Dann hat sich das Coronavirus Richtung Westen verbreitet. Wir lösten die Task Force auf, denn seither kümmert sich die Geschäftsleitung um das Thema. 80 bis 90 Prozent unseres Alltags in den letzten zehn Wochen besteht nur noch aus der Bewältigung der Krise. Wird Schweiz Tourismus redimensioniert?
Nein. Wir haben einen Einstellungsstopp ausgesprochen. Innerhalb der Organisation sind die Beschäftigungsgrade aus der Balance geraten. Jene, die an Notlösungen arbeiten, haben viel mehr zu tun und andere in der Krise weniger. Unsere Stabschefin Viviane Grobet klärt das ab und schaut, wer Hilfe braucht. Unsere Mitarbeiterinnen in Korea unterstützen jetzt beispielsweise das Digitalteam. Tourismuswerbung in diesen Zeiten bringt praktisch nichts mehr, oder?
Das ist richtig. Es wäre grundfalsch, in einer Zeit, in der sich die Menschen mit existenziellen Ängsten beschäftigen, mit einfallsloser und ignoranter Tourismuswerbung auf den Plan zu treten. In dieser Phase müssen wir als sanfte Branche mit Emotionen rüberkommen. Deshalb haben wir praktisch alle üblichen Marketingaktivitäten auf Halt gestellt und in den sozialen Medien die Empathiekampagne «Dream now – travel later» lanciert. Mit ihr wollen wir potenzielle Gäste ansprechen. Das erlaubt uns, empathisch einfühlsame und trotzdem schöne Bilder von der Schweiz zu spielen. Wie schlimm steht es um die Besucherzahlen?
Ende Januar sagten wir starke Einbrüche aus China voraus, dann für ganz Asien, danach für Italien, ganz Europa und die USA. In einer zweiten Phase betrafen die Rückgänge die Städte mit dem Geschäftstourismus. Der Bergtourismus im Winter lief noch einigermassen gut, weil die Menschen sich in den Bergen und auf den Pisten sicher fühlten. Und heute sind wir in der Realität angekommen. Sämtliche Märkte und alle Touristiker sind betroffen. Das ist für uns neu. Bei 9/11 waren es vor allem die USA, bei SARS eher China und Asien insgesamt, die Finanzkrise betraf eher Europa wegen des Eurokurses. Wir hatten immer andere Märkte als Ausweichmöglichkeiten. Jetzt gibt’s keine Alternative mehr, weil alle betroffen sind. Wie gehen Sie damit um?
Anfangs versuchten wir, die Auswirkungen zu quantifizieren. Das bringt nichts mehr, weil sich die Situation täglich ändert. Inzwischen liegt die Schadensmeldung vor. Sie ist immens. Wir haben einen Drei-Punkte-Plan ausgeschafft: Erstens passten wir unsere Zahlungsmodalitäten an, damit unsere Partner Liquiditätsengpässe überbrücken können. Das ist nur ein kleiner Beitrag, um die Not zu lindern. Zweitens – und das ist einer der wichtigsten Punkte: Wir analysieren den richtigen Wiedereinstiegszeitpunkt anhand diverser Daten von der eigenen Plattform MySwitzerland.com, Flug- und Hoteldaten oder Suchbegriffen auf Google Analytics, um festzustellen, wann ein Markt wieder für touristische Botschaften empfänglich ist. Drittens haben wir einen «Recovery Plan», um dann im richtigen Moment wieder die Schweiz als Ferienland zu bewerben. Dabei gehen wir davon aus, dass der Bund Sondermittel spricht. Doch zuerst muss er den Betrieben helfen. Das ist uns klar. Wie immens ist der Schaden? Wie viele Hotels und Restaurants werden schliessen müssen?
Vergangene Woche zeigte eine Umfrage, die wir gemeinsam mit Hotellerie­Suisse und der Hochschule für Wirtschaft in Sierre VS durchführen, dass in der Branche schweizweit 19 Prozent aller Umfrageteilnehmer mit einem Konkurs rechnen. Dabei gehen aber sogar 27 Prozent aller Schweizer Restaurants und 23 Prozent aller Hotels von einer hohen Konkurswahrscheinlichkeit aus. Das ist sehr traurig. Weltweit gesehen gibt es auch eine andere Entwicklung: In China sollen 84 Prozent aller Hotels wieder geöffnet sein, unsere Leute im Land treffen Veranstalter und Medien. Es ist allerdings schwierig einzuschätzen, wie viel Zweckoptimismus hinter solchen Meldungen steckt. Dennoch ist es interessant für uns, denn wenn sich China als das erste vom Coronavirus betroffene Land wieder Richtung Normalität bewegt, können wir Prognosen für unsere anderen Märkte hochrechnen. Vor lauter Negativmeldungen geht vergessen, dass der Euro gegenüber dem Franken bei 1.05/1.06 verharrt. Was würde das in normalen Zeiten bedeuten?
Wir haben die Auswirkungen des Wechselkurses auf die Tourismusströme aus dem Euroland jahrelang unter die Lupe genommen. Erstarkt sich der Franken um 1 Prozent gegenüber dem Euro, bedeutet das für alle Euroländer insgesamt ein Minus von 1 Prozent bei den Logiernächten. Innerhalb der Eurozone gibt es Unterschiede. Die Niederlande reagieren beispielsweise innerhalb weniger Wochen und stärker darauf, Frankreich schwächer. 2020 können Sie abschreiben.
Nein. 2020 wird ein furchtbares Jahr werden, viele Betriebe werden das nicht überleben. Ich weigere mich aber, das ganze Jahr schon Anfang April abzuschreiben. Wir müssen unsere Kräfte und Energien für die zweite Jahreshälfte aufwenden und retten, was noch zu retten ist. Einige Ausfälle werden wir nicht aufholen können. In der ländlichen und alpinen Schweiz sind April/Mai zum Glück nicht die stärksten Monate. Die Städte hingegen haben jetzt Hochsaison, weil viele Meetings stattfinden. Sie trifft die Krise mit voller Wucht. Gibt es irgendeine positive Entwicklung, über die Sie sich derzeit freuen?
Ich habe noch nie eine so starke Kooperationsbereitschaft und den Willen zum Zusammenstehen gespürt wie jetzt – in der Branche und auch in der gesamten Schweiz. Wie wir als Tourismusallianz zusammenstehen – und da gehört GastroSuisse dazu –, finde ich der Hammer. Schade, dass es dafür eine Krise braucht. Ich wünsche mir, dass wir dieses Denken auch nach dem Coronavirus beibehalten können. Was planen Sie am 15. April? Dann hätte ja der Ferientag in Arosa mit 1300 Teilnehmenden stattfinden sollen.
Wir wollen uns am Nachmittag des 15. Aprils über einen digitalen Kanal an die Branche wenden und uns mit ihr austauschen. Und Ende August organisieren wir eine Zusammenkunft in Zürich. Es wird kein Ferientag, aber ein fachlicher Austausch. Bis dann dürften wir das Schlimmste hinter uns haben. Wir Touristiker haben das grosse Bedürfnis, uns in die Augen zu schauen, die Mimik des anderen zu sehen oder einen Handschlag zu empfangen. Deshalb gibt es auch in Zukunft wieder einen Ferientag. Unsere Branche kann man nicht vollends virtuell machen. Wie kommt die Plattform für Restaurants voran, bei der GastroSuisse involviert ist?
Wir arbeiten mit Hochdruck an der Produktion und empfehlen auf MySwitzerland.com rund 1000 Restaurants, erzählen Geschichten über Köche, Gastgeber und Konzepte. Die Inhalte stehen vor dem Abschluss. Wir sind bereit und legen zu gegebener Zeit los. Erlauben Sie mir hier eine Prognose: Sobald der Notstand aufgehoben wird, wollen die Menschen ab in die nächste Beiz oder Bar, zumindest hoffe ich das. Wir sind nicht für Social Distancing gemacht. Wir wollen uns treffen, austauschen und das mit einem feinen Essen gemeinsam mit unseren Liebsten. Wie gestalten Sie in diesen Tagen Ihre Freizeit?
Auch ich bin im Homeoffice. Morgens gehe ich meist mit unserem Sohn eine halbe Stunde joggen. Mittags und abends essen wir als Familie gemeinsam, was für uns eine neue Situation ist. Ansonsten gilt in der Freizeit Uhu (ums Haus herum, Anmerkung der Redaktion). _________________________________ ★ Familienvater und 240 Mitarbeitende
Martin Nydegger (49) ist seit dem 1. Januar 2018 Direktor bei Schweiz Tourismus (ST), verheiratet und Vater eines 13-jährigen Sohns. Nydegger, in Büren an der Aare BE aufgewachsen, absolvierte eine Lehre als Landmaschinenmechaniker, liess sich an der Höheren Fachschule für Tourismus Graubünden in Samedan ausbilden, startete beim Kurverein Scuol GR und ging 2005 für Schweiz Tourismus nach Amsterdam. Der Touristiker gilt als Vater der «Grand Tour of Switzerland», einer 1600 Kilometer langen Auto- und Motorradtour durch die Schweiz. ST besteht aus 240 Mitarbeitenden in 22 Märkten und hat ein Jahresbudget von gut 90 Millionen Franken.