Wie sich die Berggastronomie neu erfindet

Isabelle Buesser – 14. Juli 2022
Laut «Schweizer-Wanderwege» sorgt das Wandern für einen Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Franken. Covid hat den Trend verstärkt. Wir haben drei Bergrestaurants in drei Sprachregionen besucht: die Bonavau-Hütte im Wallis, die Chamanna Jenatsch GR sowie den Monte Generoso TI mit seinem neuen Gastrokonzept.

Bonavau-Hütte, Champéry (VS), 1550 Meter über Meer

Die am Dents du Midi eingebettete Bonavau-Hütte ist nur zu Fuss erreichbar. Brigitte Rey-Mermet Saillen hat dieses Jahr die Bewirtung dieses kleinen Stücks Paradies übernommen. Da die Wirtin nur über wenig Strom verfügt, der von einem kleinen Solarpanel erzeugt wird, bietet sie den Wanderern hausgemachte Gerichte an, die auf dem Holzfeuer zubereitet und mit Wildkräutern serviert werden. «Ich hatte es satt, in Büros zu arbeiten», sagt Brigitte Rey-Mermet Saillen auf die Frage, warum sie die Hütte übernommen hat. «Nach einigen Jahren in der Verwaltung war es für mich an der Zeit, einen Tapetenwechsel vorzunehmen und die Natur wiederzufinden.» Die 51-Jährige erzählt, dass sie die Berge braucht, um neue Energie zu tanken, auch wenn sie doppelt so viel arbeitet wie früher. In der Tat sind die Tage in der Bonavau-Hütte intensiv. «Ich arbeite oft 18 Stunden am Tag», gesteht das neue Mitglied von GastroSuisse ein, «aber hier kann ich wählen, was ich tue und muss keine Rechenschaft ablegen.»
Um sie bei der Leitung der Hütte, die einen Restaurantservice sowie 18 Schlafplätze bietet, zu unterstützen, kann sie auf Janique Ferrari zählen. Die gelernte Krankenschwester brauchte nach Covid ebenfalls eine Pause und entschied sich dafür, einen Sommer lang in der Berghütte zu arbeiten. Der Rest des Teams, das an den Wochenenden bis zu sieben Personen umfasst, setzt sich aus Aushilfen, Brigittes Partner und manchmal auch aus Freiwilligen zusammen. Dennoch musste die Hüttenwartin in diesem Frühjahr die Hütte wegen Personalmangels für einige Tage schliessen.

Kochen mit Holzfeuer, kaltem Wasser und wenig Strom

Da die Stromleitungen nicht bis nach Bonavau reichen, nutzt Brigitte Rey-Mermet Saillen zum Kochen wie erwähnt Holzfeuer. «Das dauert ein bisschen länger, deshalb sage ich den Gästen vorher Bescheid», erzählt die Wirtin. Auf dem Ofen können nämlich nicht mehr als fünf Käseschnitten auf einmal gebacken werden. Unter der Woche (ausser in den Ferien) serviert das Team bis zu 20 Teller pro Tag, aber am Wochenende können es bis zu 70 sein. Brigitte schaltet dann manchmal den Gasherd ein, um die Gäste nicht zu lange warten zu lassen: «Meistens sind die Leute wirklich verständnisvoll». Der Betrieb eines Holzherds erfordert viel Präzision, damit das Essen nicht anbrennt und die ideale Temperatur erreicht wird, ohne dass etwas verschwendet wird. Es werden zwei Arten von Holz benötigt: Buche, um die Temperatur zu erhöhen, und Fichte, um das Feuer am Brennen zu halten.
Die Hütte verfügt über ein kleines Solarpanel und einen Generator, die abends Licht spenden, einen Kühlschrank und die Schneidemaschine versorgen die Angestellten und bieten ein Minimum an Komfort. Das Wasser kommt aus einer kleinen Quelle. Es ist trinkbar, aber nur die Dusche für die Angestellten ist geheizt. Was ist mit dem Geschirr? «Wir haben ständig zwei grosse Töpfe mit kochendem Wasser auf dem Holzherd. Wir mischen es in Behältern mit kaltem Wasser», sagt Janique Ferrari. Auch die Internetverbindung ist in der Hütte nicht optimal. Darum arbeitet Brigitte für die gesamte Administration auf die altmodische Art, mit Notizbüchern und Formularblöcken, die sie für Quittungen und Kurtaxen von Hand ausfüllen muss. «Für die Lohnabrechnungen habe ich selbst ein Formular erstellt, damit ich es nicht jedes Mal herunterladen muss. So kann ich es hier ohne Internetverbindung machen», erzählt sie.
Eine weitere grosse Herausforderung sind die Lieferung und die Aufbewahrung der Produkte sowie die Abfallentsorgung. Da die Hütte keinen Strassenzugang hat, wird sie alle sechs Wochen per Helikopter beliefert. Obwohl die Kosten für diese Lieferungen beträchtlich sind, sind sie unverzichtbar. Brigitte Rey-Mermet Saillen darf sich bei der Vorbereitung ihrer Bestellungen keine Fehler erlauben. Sie muss ihren Bedarf für die nächsten sechs Wochen genau abschätzen. Denn bis zum nächsten Heli-Transport, werden die Lebensmittel zu Fuss im Rucksack nach oben getragen.
Die Lebensmittel werden hauptsächlich in Steinkellern aufbewahrt, die befeuchtet werden können, um bei zu hohen Temperaturen für etwas Kühlung zu sorgen. Die beiden Kühlschränke helfen bei der Aufbewahrung von Mise en Place und empfindlichen Lebensmitteln. Verschwendung ist ein No-Go. «Wir können es uns nicht leisten, Lebensmittel wegzuwerfen», so Rey-Mermet Saillen.

10 Berhuette Stein Holz Paar

Daniel Sidler und Jill Lucas geniessen das Frühstück vor ihrer SAC-Hütte. Sie essen jeweils dasselbe wie ihre Gäste (Foto: zVg)

Chamanna Jenatsch, Val Bever GR, 2652 Meter über Meer


Text Benny Epstein
Am Sonntag muss Jill Lucas (37) überlegen, welche Produkte bis Freitag aufgebraucht sein werden. Dann bestellt sie beim Metzger, beim Käser und beim Weinhändler im Tal sowie bei Transgourmet. Und ordert den gelben Helikopter bei der HeliBernina AG. Nur so gelangt Ware zur Chamanna Jenatsch. Die höchstgelegene SAC-Hütte Graubündens befindet sich auf 2652 Metern über Meer, zuhinterst im Val Bever, zwischen Julier- und Albulapass. Während der Hauptsaison fliegt der Heli wöchentlich hoch, 850 Kilogramm kosten 500 Franken für die Viertelstunde in der Luft ab Samedan. «Unsere Lieferanten bringen die Ware ins Schöpfli bei der Helikopterbasis», so Lucas. «Der Pilot stellt die Ware neben unserer Hütte ab.»
Gemeinsam mit ihrem Partner Daniel Sidler (38) führt Lucas die Hütte seit 2019. In ihren gelernten Berufen waren sie nur mässig zufrieden, die Jenatschhütte kannten sie schon davor gut, halfen hier aus – und entschlossen sich, zu übernehmen, als die Gelegenheit kam. «Meistens arbeiten wir hier zu viert, wobei Dani und ich während der Saison kaum frei haben.» In der Hütte gibt es immer zu tun, und nicht zuletzt wollen die beiden dem Ruf der Genuss- und Wanderhütte gerecht werden. «Fertigprodukte verwenden wir nicht. Wir kochen frisch mit regionalen Produkten.» Unkompliziert, aber lecker soll es sein: Rösti, Pizzoccheri, Nusstorte oder Pangeercher. Letzteres ist eine Omelettspezialität aus Lucas’Heimat. «Das Rezept stammt von meiner Mutter.» Auch das Sauerteigbrot backen sie hoch auf dem Berg selbst. Manch ein Gast lässt sich Scheiben davon mit Fleisch oder Käse belegen – als Sandwich für die nächste Wanderung.

Vegetarisch, ohne das Fleisch zu vermissen

70 Betten ergeben 4500 bis 5000 Übernachtungsgäste pro Jahr. 95 Prozent wählen Halbpension. Die Übernachtung für SAC-Nichtmitglieder im Massenlager kostet 46 Franken, inklusive Halbpension sind es 81 Franken. In diesen 35 Franken Aufpreis sind abends ein Dreigänger, das Frühstück sowie ein Liter Marschtee dabei. Zum Znacht gibt es dasselbe Menü für alle. Entsprechend dem Trend gibt es auch in der Chamanna Jenatsch immer mehr Vegi-Küche. «Wir kochen Gerichte, bei denen der Gast das Fleisch nicht vermissen soll», so Lucas. «Risotto mit Steinpilzen oder mit getrockneten Tomaten, das lieben die meisten.» Oder Pasta mit dem hausgemachten Bärlauchpesto. Zwar ist das Paar nicht vom Fach, doch wissen sie mittlerweile gut auf Allergien und Intoleranzen zu reagieren. «Die meisten teilen uns diese schon von vornherein mit.»
Fehlt doch mal was, zeigen die meisten Gäste Verständnis. Seit dem Corona-Ausbruch häufen sich Gäste, die zuvor kaum Berghütten aufgesucht hatten. «Denen müssen wir manchmal erklären, wie es hier funktioniert.» Zur Not haben Sidler und Lucas Dörrbohnen und ein paar Dosen auf Vorrat. Fehlt ein wenig Joghurt fürs Müesli, so helfen sie eben mit Rahm nach.
Die Weinkarte ist klein: ein paar Italiener ergänzen das Angebot aus dem Bündnerland. Derzeit figurieren Weine vom Zizerser Weingut Grendelmeier auf der Karte: der Riesling Sylvaner, der Federweisser Plima Alva und der Pinot Noir Selecziun. «Teure Weine würden nicht zu einer SAC-Hütte passen.» Beim Bier setzt das Duo auf Engadiner Biere sowie auf Feldschlösschen Hopfenperle aus dem FlexiDraft-System. Dabei wird das Bier nicht im Stahl-, sondern im Pet-Tank geliefert, was das Fluggewicht massiv verringert. Zudem bleibt das Bier in diesem System länger frisch. Frisch und bereit für die neue Sommersaison fühlt sich Lucas – sie will Hüttenwartin bleiben, bis sie dereinst keine Freude am Steinbock vor der Hütte und am kreisenden Bartgeier mehr hat. Das dürfte aber noch ein Weilchen dauern.

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Gioele Palumbo und Simona Nocera sorgen dafür, dass die Gäste im Ristorante Fiore di pietra verwöhnt werden (Foto: Reto E. Wild)

Monte Generoso TI/I, Fiore di pietra, 1704 Meter über Meer

Text Reto E. Wild
Als ob es eines weiteren Beweises für den Wandel bedurft hätte, zeichnete kürzlich das Fachmagazin «Vinum» das Weinangebot im Ristorante Fiore di pietra auf dem Monte Generoso mit vier von fünf möglichen Sternen aus. «Fiore di pietra» (Steinblume) nennt sich das Spitzenrestaurant im vom Tessiner Stararchitekten Mario Botta entworfenen, fünfstöckigen Monumentalbau, der auf einem felsigen Bergplateau auf 1700 Metern über Meer thront. Es war Lorenz Brügger (54) persönlich, der entschieden hat, im Restaurant ausschliesslich auf Tessiner Weine zu setzen – 49 verschiedene stehen zur Auswahl.
Brügger, der CEO der Zahnradbahn Ferrovia Monte Generoso (FMG), dank Gottlieb Duttweiler seit 1941 im Besitz der Migros, informiert: «Fiore di pietra wurde 2017 eröffnet und kostete rund 25 Millionen Franken. In einer normalen Saison begrüssen wir auf dem Monte Generoso rund 85 000 Besucher oder im Tagesdurchschnitt 350 Leute, wobei Montag bis Donnerstag unsere stärksten Tage sind.» Ab März 2023 soll der Generoso zum Ganzjahresbetrieb werden. Zur Hochsaison von Mitte Juni bis Ende Oktober arbeiten 90 Angestellte für die FMG. Zuoberst auf der täglich geöffneten «Steinblume» steht eine Panoramaterrasse, die einen spektakulären 360-Grad-Rundblick auf den Luganersee oder von der Jungfrau bis zum Gotthardmassiv freigibt. Die noch immer wenig bekannten Konferenzräume für bis zu 100 Personen befinden sich auf der zweiten Etage, das Selbstbedienungsrestaurant mit je 120 Plätzen auf der Terrasse und im Gebäudeinnern ist in der dritten untergebracht, das Ristorante mit weiteren 120 Plätzen in der vierten Etage.

Eigener Kräutertee mit Edelweiss

Der Italiener Gioele Palumbo (39) ist Manager des Fiore di pietra und verantwortet ein Team von gut zwei Dutzend Personen. «Wir setzen bei Speisen und Getränken auf eine authentische Küche, die unsere Region und saisonale Produkte zur Geltung bringt», erklärt er, der 2020 von der Giardino-Gruppe in Minusio zur FMG stiess. Diese möchte sich innerhalb von fünf Jahren zu einem sozial und ökologisch nachhaltigen Unternehmen entwickeln. Das Level II von maximal III des Labels Swisstainable von Schweiz Tourismus haben sie bereits erreicht. Die FMG setzt bei den Produkten bewusst auf Regionalität und hat dazu zahlreiche Synergien mit heimischen Lieferanten aufgebaut. Und die FMG geht mit gutem Beispiel voran und lancierte diese Saison den Kräutertee Tisana Monte Generoso. Die Mischung aus biologisch angebauten Kräutern wurde in Zusammenarbeit mit dem Landwirtschaftsbetrieb Azienda Agricola Bianchi und Erbe Ticino Cofti.ch SA. kreiert. Unter anderem 100 Edelweiss wachsen direkt neben dem Gipfelgebäude Fiore di pietra. Diese in der Region angebauten, geernteten und getrockneten Teekräuter sei, so Palumbo, ein perfektes Beispiel für die Kreislaufwirtschaft.
Die Karte im gediegenen Restaurant mit riesigen Fensterfronten, weissen Tischtüchern, Weinschränken mit Glastüren und Weingläsern von Schott Zwiesel enthält Tessiner Klassiker wie «Misto di salumi e formaggi» oder «Rosa di vitello in carpaccio» als Antipasti, aber auch vegane Gerichte. Das «Risotto allo zafferano, luganighetta ticinese» gibt es als «Primi Piatti», ebenso die hervorragenden, hausgemachten Spaghettoni mit Fischragout an Orangenschaum. Das Vorzeigegericht zum Hauptgang: Rindsschmorbraten am Spiess mit zweierlei Polenta. Die Präsentation auf dem Teller mit hoch aufgerichteten Polentascheiben erinnert an Bottas Gebäude.
Verantwortlich dafür ist die neapolitanische Küchen­chefin Simona Nocera (32). Sie fährt seit 2017 jeden Arbeitstag mit ihrem Auto nach Capolago am Luganersee. Dort startet die Zahnradbahn seit 132 Jahren und erreicht den Monte Generoso in rund 40 Fahrminuten. Jeden Morgen gibt es einen Personalzug, der auch die Esswaren hochfährt. Derzeit experimentiert Simona Nocera mit ungewohnten Kombinationen, etwa Süsswasserfisch mit Wassermelonen. «Wir sind daran, für die nächste Saison eine neue Speisekarte zu kreieren, mit Empfehlungen des Chefs für Vor- und Hauptspeise sowie Desserts», sagt sie.