«Veganes hat nur Zukunft, wenn es genussvoll ist»

Corinne Nusskern – 13. Januar 2022
Jedes Jahr wächst die Zahl der Menschen, die sich rein pflanzlich ernähren. Jetzt im Veganuary ist ein guter Moment, sich dem Veganismus anzunähern. Einer, der sich auskennt, ist Raphael Neuburger, Mitbegründer und Präsident des Vereins «Vegane Gesellschaft Schweiz.»

Raphael Neuburger, wir befinden uns mitten im Veganuary: Ist das Essen von Fleisch und Fisch barbarisch?
Raphael Neuburger: Überhaupt nicht, es hat eher etwas Urtümliches. Aber Barbaren? Das wäre dann eine pseudoromantische Vorstellung von Leuten, die Hunger haben und dafür wie in der Steinzeit mit Speeren bewaffnet auf Mammutjagd gehen.

Ist Fleisch essen nicht genetisch verankert im Menschen?
Es scheint mir nicht plausibel, dass Menschen Fleischeslust in sich tragen. Wir sind Gewohnheitstiere, und unsere Essensweise ist stark von Traditionen geprägt. Wer als Kind lernt, dass Fleisch einen hohen Stellenwert hat, wird dieses Verhalten nicht so leicht los. Heute sind wir aber an einem Punkt, wo es so nicht weitergehen kann. Die Produktion von Fleisch verbraucht zu viele Ressourcen.

Somit gerät der klassische Fleischesser in Argumentationsnotstand?
Auf jeden Fall. Das heutige Lebensmittelsystem ist für 30 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich, das meis­te davon zulasten von Tierprodukten. Dies wird gesellschaftlich thematisiert. Inzwischen müssen sich vegan lebende Menschen seltener rechtfertigen, die Beweislast ist eher auf die Seite der Fleischesser gerutscht. Die Argumente «Es ist fein» und «Wir haben es schon immer so gemacht» sind eben relativ schwach.

Was antworten Sie, wenn jemand sagt: «Aber Fleisch und Würste haben in der Schweiz eine grosse Tradition»?
Traditionen spielen eine wichtige Rolle. Deshalb wollen wir zeigen, dass es genau­so schmackhaft sein kann, wenn man das Tier durch Pflanzen ersetzt. Aber wir wollen nie belehrend sein, sondern nachhaltige und faire Lösungen finden.

Die Anzahl der Veganer hat sich 2021 in der Schweiz auf 0,6 Prozent verdoppelt.
Das Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge und die Zustände in der Nutztierhaltung spielen eine wichtige Rolle. Und ganz zentral: Die Verfügbarkeit und Qualität veganer Alternativprodukte ist massiv gestiegen.

Eine in diesem Kontext oft gehörte Frage: Reicht vegetarisch nicht auch?
Der Umwelt-, Tier- und Gesundheitsgedanke geht beim Vegetarischen nicht weit genug. Hühner werden für die Eierproduktion gezüchtet und nach einem Jahr entsorgt. Mutterkühe müssen immer wieder geschwängert werden, um Milch zu produzieren, die ihre Kälber aber nie zu Trinken bekommen.

Es gibt inzwischen einige vegane Restaurants. Sie betreiben den veganen Fast-Food-Laden Unmeat. Wer sind Ihre Kunden?
Querbeet. Familien, langjährige Veganerinnen, mutige Nachtfalter und «Gwundernasen». Als Zielgruppe möchten wir auch Fleischliebhaber ansprechen und uns der Herausforderung stellen, uns mit klassischen Burgerläden zu messen.

Warum haben Sie sich für Fleischersatzprodukte entschieden? Veganer nörgeln oft, die seien nur für Flexitarier.
Trägt man die Fleischeslust in sich, wird diese mit Pflanzenfleisch voll­stän­dig befriedigt, ohne ein Lebewesen dafür töten zu müssen. Mein Geschäftspartner Theo Favet­to und ich waren schon immer FastFood-Fans! Wir tischen eine nachhaltige Variante von Klassikern auf der Basis von Erbsen-, Soja- oder Weizenproteinen auf.

Also muss veganes Essen nicht zwingend gesund sein, sondern darf ent­gegen aller Klischees Spass machen?
Auf jeden Fall! Veganes hat nur Zukunft, wenn man sein Leben genussvoll weiterführen kann. Es darf auch mal schnell, fettig und knusprig sein! Es ist wie bei allem, die Mischung macht es aus. Wir wollen für den Fast-Food-Heisshunger die vegane Lösung bieten. Trotz Co­ro­na und Homeoffice läuft es sehr gut. Vor allem abends stehen die Leute Schlange.

Vegane Betriebe findet man meist in urbanen Gebieten. Gastronomen in ländichen Regionen, dort, wo Kühe und Schafe sichtbar weiden, sind da eher zaghaft. Wie ermutigen Sie diese, mehr Veganes auf die Karte zu setzen?
Ich empfehle, etablierte Gerichte wie Spaghetti bolognese oder Züri Geschnetzeltes parallel auch in einer veganen Variante anzubieten. Das Lägernstübli in Boppelsen ZH macht genau dies sehr erfolgreich: einfach spielerisch damit umgehen. Auch Ghackets mit Hörnli oder Lasagne funktionieren wunderbar in einer veganen Variante.

Warum ist es so schwer, Veganismus in der Gesellschaft als etwas Positives zu etablieren?
Viele fühlen sich in der eigenen Haltung kritisiert oder haben Angst um Gewohnheiten. Dabei soll das Vegane eine Erweiterung und nicht eine Einschränkung sein. Die Berührungsängste gehen aber zurück, auch in der Gastronomie. Kann in einem Betrieb jemand Jüngeres mitreden, wird die Menükarte oft aus dem veganen Dornröschenschlaf geweckt. Man kann sich etwas vom Gourmetkoch bis zum Burgerladen abschauen und adaptieren. Da liegt viel Potenzial!

Sie leben seit 2001 vegan. Was ist heute anders als vor 20 Jahren?
Alles! Das Unwissen und die Vorurteile wa­ren enorm. Wir haben den Tofu damals fast selbst hergestellt. Beim Auswärtsessen mussten wir einen veganen Schlachtplan entwickeln, um etwas zu bekommen! In den letzten Jahren hat sich viel bewegt. Es ist eine ungeheure Offenheit zu spüren, und die Verfügbarkeit an veganem Essen ist drastisch gestiegen.

Wo wollen Sie hin, was sind die Ziele der «Veganen Gesellschaft der Schweiz»?
Wir möchten unsere Zusammenarbeit mit Unternehmen stärken: Von Grossverteilern über Hersteller bis zur Gastrobranche besteht sehr viel Bedarf an Know-how. Es bleibt spannend!

Die Argumente für eine vegane Lebensweise sind allen klar. Warum hört sie für die meisten beim Essen auf? Sind wir doch inkonsequente Barbaren?
Nein, eher Barbapapas im Sinne von zu bequem! Sich diesen Ruck zur Veränderung zu geben, ist oft schwierig und anstrengend. Aber die allermeisten, die vegan wurden, wollen nicht mehr zurück.