Gastronomie

Tim Raue: «Man kann in der Gastronomie nur mit ganzem Herzen dabei sein»

Reto E. Wild – 20. März 2019
Tim Raue is(s)t gerne in der Schweiz und verantwortet in St. Moritz und Zürich zwei Pop-up-Restaurants. Der Berliner Starkoch über Patentrezepte, Fachkräftemangel, Budgets und Yoga.

Weshalb haben Sie sich entschieden, mit Pop-up-Restaurants in die Schweiz zu kommen?
Tim Raue: Die Schweiz ist für mich ein besonderer Ort, denn hier gelang mir 2006 der internationale Durchbruch, als mich Reto Mathis zum Gourmetfestival nach St. Moritz einlud. Und in Zürich lebt einer meiner besten Freunde, den ich regelmässig besuche. Mit ihm gehe ich gerne in die Kronenhalle oder ins ­Caduff’s Wine Loft essen, und wir quatschen vor allem viel. Wenn ich nun im Restaurant Saltz des Dolder Grand noch ein bisschen kochen muss, ist das ein willkommener Grund, um nach Zürich zu reisen. Ich bin gerne dort und habe den Vorteil, dass ich eine gewisse TV-Präsenz habe: Die beiden Pop-up-Dinner im Saltz waren innert kürzester Zeit ausgebucht. Wie erleben Sie die Gastronomie in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland?
Anders. Der Schweizer Gast ist eher konservativ, etwas vorsichtiger, kulinarisch aber sehr interessiert und eher frankophil. Dafür ist er sehr treu. Beim Pop-up im Kulm Hotel St. Moritz gab es viele Gäste, die gleich drei-, viermal ins The K by Tim Raue essen gingen. Zudem trinkt der Schweizer gerne guten Wein, was ich sehr schön finde. Wie beurteilen Sie die Schweizer Mitarbeitenden?
In der Schweiz arbeiten viele Deutsche, Italiener und Portugiesen. Schade ist, dass bei den Einheimischen – ähnlich wie in Deutschland – dieser Berufszweig oft nicht erste Wahl ist. Der Beruf des Kochs und des Kellners ist grossartig. Viele sehen die Möglichkeiten nicht, wie man durch pure Leistung in der Hierarchie aufsteigen und zu einem guten Lohn selbständig arbeiten kann. In welchem Bereich sehen Sie in der Schweiz noch Aufholpotenzial? In Zürich hat sich kulinarisch sehr viel getan, St. Moritz machte den Fehler, es zu lange auf die Klientel der besonders Reichen abgesehen zu haben. Das Verständnis von Luxus hat sich grundlegend verändert: Erfolgreiche Menschen wollen heute vor allem Ruhe und Aufmerksamkeit. Ich selbst bin bei der Restaurantwahl konservativ: Ich möchte keine Lokale von aufstrebenden Köchen be­suchen, die etwas servieren, das ich gar nicht essen mag und mich alle fünf Minuten unterbrechen, um zu erzählen, dass der Bauer Soundso die Rüben aus dem Acker gezogen hat. Ihr Restaurant Tim Raue hat es ­weltweit in die Top 50 geschafft. Was empfehlen Sie einem Gastgeber mit beschränkten Ressourcen? Er soll was anderes machen (lacht)! Im Ernst: Als Unternehmer sollte man immer vorwärtsschauen, volles Risiko eingehen und davon ausgehen, dass letztlich alles gut kommt. Es gibt kein «Wir versuchen ein bisschen». Dann ist man zum Scheitern verurteilt. Ein paar Grundsätze funktionieren immer: Man kann nur Gastgeber sein, wenn man mit ganzem Herzen dabei ist und ein echtes Anliegen hat, dem Gast etwas Gutes zu tun. Und ein Gastgeber muss sich immer fragen, für wen er das macht, wer seine Kundschaft ist und ob diese den Weg zu seinem Restaurant findet. Ihre Küche ist geprägt von asiatischen Elementen. Wie weit lassen sich diese auch auf einfachere Restaurants übertragen?
Einer der wichtigsten Faktoren: Sie müssen nicht eine Forelle, die Sie immer mit Beurre blanc zubereiten, plötzlich mit Teriyaki kochen. Beurre Blanc mit Sake sorgt für das viel bessere Ergebnis. Die Süsse, Schärfe und Säure aus Asien erweitern die Aromenwelt enorm. Das in meine Küche einfliessen zu lassen, war eine der besten Ideen, die ich hatte. Sie können beispielsweise Königsberger Klopse mit grünem Thai-Chili zubereiten und machen dadurch das Gericht viel spannender. Aber das müssen sie nicht extra auf die Karte schreiben. Die zwischen 18- und 38-jährigen Gäste sind ja mit Sushi, Sashimi und der chinesischen Küche aufgewachsen und lechzen geradezu nach dieser Aromenwelt. Und genau diese Gäste klagen immer mehr über Lebensmittelunverträglichkeiten. Wie gehen Sie damit um?
Ja, die neue Generation muss ausbaden, was wir früher falsch gemacht haben. Nun, alle unsere Milchprodukte sind laktosefrei, wir verzichten praktisch ausnahmslos auf weissen Zucker. Aber klar: Das ist eine monetäre Herausforderung, die auch viel Kraft kostet. Eine andere Herausforderung ist der Fachkräftemangel.
Ganz genau. Das will unsere Politik einfach nicht wahrhaben. Die Zahl der Auszubildenden im Kochberuf ist in den letzten Jahren in Deutschland um zwei Drittel gesunken. Das ist brutal. Da kommt einfach nichts nach. Das mag in der Schweiz mit den Gastarbeitern ein wenig besser sein. Wir versuchen, unsere Mitarbeitenden zu fordern, zu fördern und zu schulen und schaffen ein Umfeld, damit sie bei uns bleiben. Ihr Sommelier André Macionga kreiert für Ihr Restaurant Cuvées. Gibt es zu wenig Weine, die zur Spitzengastronomie passen?
Wir hatten tatsächlich Schwierigkeiten, passende Weine zu finden. Und so haben wir angefangen, zwei völlig verschiedene Rebsorten wie Riesling und Müller-Thurgau zu einem Fisch zu testen. Für uns passte beides ein bisschen. Wie bei zwei verschiedenen Saucen zu einem Fisch haben wir dann die Rebsorten zusammengeführt. Nur darf man das in Deutschland nicht machen. Das brachte uns auf die Idee der Cuvées. Zusammen mit Winzer Horst Sauer stellten wir Weine aus völlig unterschiedlichen Jahrgängen zusammen. André, der nun auch schon seit 13 Jahren bei uns arbeitet, hat inzwischen 10 verschiedene Weine und einen Champagner kreiert. Diese Cuvées bieten wir im Restaurant an und schaffen so eine Einzigartigkeit. Inzwischen haben Sie Restaurants auf vier TUI-Kreuzfahrtschiffen, sie kochen am Gourmet-Festival von Mittel­thurgau, haben mit der Brasserie Colette weitere Lokale. Was sind Ihre nächsten Pläne?
Wir haben vieles ausprobiert, auch ein Restaurant in Dubai. Dieses Jahr steht aber unter der Prämisse der Konsolidierung. Ich bin ja auch noch Markenbotschafter für das Grosshandelsunternehmen Metro. Im Sommer werde ich zusätzlich ein Restaurant in Potsdam eröffnen. Das ist eine Herzensangelegenheit, bei der ich die Gerichte meiner Grossmutter kochen kann. Dann ist dann aber Feierabend mit weiteren Expansionen. Ich bin gut aufgestellt. Es geht immer höher, schneller und weiter. Ich habe gelernt, dass auch ich meine Grenzen habe. Trotzdem werden Sie zusammen mit Tim Mälzer in der neuen Kochshow «Ready to beef!» auf Vox zu sehen sein.
Ja, dieses Jahr werde ich intensiver TV machen, weil Aufmerksamkeit sehr wichtig ist. Das hat uns das Restaurant gefüllt. Aber wir haben noch nicht angefangen zu drehen. Mälzer und Raue sind immer unterhaltsam – nicht nur für die Zuschauer. Wir amüsieren uns auch enorm. Haben Sie so überhaupt noch Zeit für Yoga? Im Moment besteht mein Yoga darin, im Flugzeug oder in der Bahn ein Nickerchen zu machen. Am Ende Ihrer Nachrichten, die Sie via Mobiltelefon versenden, steht «sent from a sunny place». Wo sind Sie momentan unterwegs? Das habe ich so eingerichtet, als ich vor Jahren erstmals Zeit für Ferien hatte und diese im Sommer auf Sizilien verbrachte. Danach erhielt ich so viele positive Kommentare. Da dachte ich mir, ich muss die Sonne immer im Herzen behalten.

Vom Gang-Mitglied zum Starkoch
Tim Raue (44) zählt zu den besten Köchen Deutschlands und hat sich im September 2010 mit seinem gleichnamigen Lokal in Berlin-Kreuzberg selbständig gemacht. Es belegt als einziges deutsches Restaurant den 37. Platz in den Top 50 der Welt und wurde mit 19,5 Gault-­Millau-Punkten und zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. 2015 bis 2016 eröffnete er in München, Konstanz und Berlin die Brasserie Colette Tim Raue sowie das Hanami by Tim Raue auf den «Mein Schiff»-Kreuzfahrtschiffen von TUI. Am 20. und 21. März gastiert Raue zum zweiten Mal als Pop-up unter dem Motto «Brasserie Colette Tim Raue meets Saltz» im Hotel Dolder Grand in Zürich. In seiner Biografie «Ich weiss, was Hunger ist» beschreibt er seinen Aufstieg vom Gang-Mitglied in den Strassen von Berlin bis zum Starkoch.