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«Platz 1 interessiert mich überhaupt nicht»

Benny Epstein – 17. Februar 2020
Das Restaurant Frantzén in Stockholm ist für viele Kenner zurzeit das Beste der Welt. Chef Björn Frantzén spricht im Interview über seine Ansprüche an Mitarbeiter, Teamwork und die Folgen des Coronavirus.

Björn Frantzén: Ihr Dreisternebetrieb Restaurant Frantzén ist für viele Kenner das beste Restaurant der Welt. Was erwarten Sie von Ihren 40 Mitarbeitern?
Björn Frantzén: Ich will, dass sie seriös und professionell sind. Schauen Sie sich den Fussballer Cristiano Ronaldo an. Er ist 35-jährig, aber noch immer spitze. Warum? Weil er unglaublich professionell ist. Er geht früh ins Bett, trinkt keinen Alkohol, hat sein eigenes Gym. Daher stammen seine konstanten Top-Leistungen. Er ist nicht so talentiert wie Lionel Messi. Er muss für seinen Erfolg hart arbeiten und ein seriöses Leben führen. Was heisst das nun für Sie?
Ich bin letztlich verantwortlich für alle unsere Mitarbeitenden. Wenn sie keine guten Leistungen zeigen, muss ich mich selbst hinterfragen. Wenn ein Mitarbeiter Fehler macht, ist er selten wirklich schuld, sondern ich. Entweder habe ich die falsche Person eingestellt oder sie falsch geschult. Wenn ich sie richtig eingearbeitet habe und sie drei Mal den gleichen Fehler macht, muss ich zum Schluss kommen, dass ich die falsche Person eingestellt habe. Dann ist es besser, sie geht und arbeitet für jemand anders. Das heisst aber, dass ein Mitarbeiter bei Ihnen immer eine zweite Chance kriegt, wenn er einen Fehler macht?
Ja klar, immer. Erst nach dem dritten Mal wird es wirklich ernst. Dann muss der direkte Vorgesetzte des entsprechenden Mitarbeiters herausfinden, wo das Problem liegt. Wurde der Mitarbeiter korrekt geschult? Hat er die richtigen Informationen erhalten? Falls ja: Warum macht er dennoch drei Mal den gleichen Fehler? Ist die Aufgabe zu schwierig für ihn? Dann ist die Lösung simpel: Ich will niemanden anschreien, niemand will angeschrien werden. Ich will nicht enttäuscht werden, und der Mitarbeiter will mich ja sicher auch nicht enttäuschen. Also ist es doch besser, wenn er sich in der Branche einen anderen Arbeitgeber sucht. Klingt eigentlich logisch.
Eben. Natürlich ist das in der Realität nicht so einfach, aber nur so funktioniert es. Apropos Ronaldo und Messi: Sie waren selbst auf bestem Weg zum Fussballprofi, als Sie Ihre Karriere im Alter von 19 Jahren aufgrund einer Verletzung frühzeitig beenden mussten. Welche Qualitäten vom Fussball haben Sie in die Küche mitgenommen?
Erstens das Teamwork, zweitens unter Druck Leistung zu bringen. Und wie auf dem Platz ist es auch bei uns oft dieses «Wir gegen die anderen». Viele Köche, die mit mir arbeiten. waren auch gute Sportler. Das hilft sicher. Auch Silvio Germann, der bei Ihnen gearbeitet hat (siehe unten), betonte, wie gut das Teamwork, das Miteinander in Ihrem Restaurant funktioniere.
Ja, das ist sehr wichtig. Man muss zusammenarbeiten, Wissen weitergeben, Vertrauen schenken. Ich profitiere davon letztlich, denn viele meiner Mitarbeiter bleiben deshalb sehr lange bei uns. Der Küchenchef meines Restaurants in Hongkong arbeitet seit elfeinhalb Jahren hier. Charlie Benitez, mein Küchenchef im Frantzén, arbeitet seit acht Jahren mit mir. 2017 sind Sie mit Ihrem Restaurant umgezogen – weshalb?
Zwei Jahre davor realisierten wir, dass wir am alten Ort nicht mehr weiterkommen. Ich wollte ein Ort, an dem wir auf offenem Feuer kochen können. Ein Ort, bei dem der Gast das Gefühl hat, er würde eine Wohnung betreten. Im Fine Dining ist es so wichtig, sich stetig weiterzuentwickeln. Stillstand bringt Langeweile. In Ihrem Restaurant geht es längst nicht nur um das, was sich auf dem Teller abspielt. Das Drumherum scheint Ihnen ebenso wichtig. Das Wohlfühl-Ambiente, die Musik im Lift, die Balance zwischen Professionalität und Lockerheit.
Ja, ich wollte ein Restaurant kreieren, das mir entspricht. So wie ich selbst gerne Fine Dining erleben würde. Ich bin sehr zufrieden, wie die Umsetzung gelang und dass der Gast versteht, was wir tun und was wir sein möchten. Welche Musik hört der Gast zurzeit im Lift?
Auf dem Weg nach oben erklingt «Enter Sandman» von Metallica und auf dem Weg hinunter «Should I Stay or Should I Go» von The Clash. Ich wechsle die Musik immer wieder. Sie servieren Ihrem Gast ein Kartoffelröllchen mit einer Füllung aus Crème fraîche, Zitrone und Schnittlauch-Pulver. Auf dem Röllchen liegen Fisch­rogen und eingelegte Zwiebeln. Die Vorbereitung dauert zwei Tage, gegessen ist das Röllchen in zwei Bissen. Ist das nicht übertrieben?
Diesen Gedanken hatte ich nie. Oft sehen die besten Gerichte – wie etwa dieses – sehr simpel aus, aber der Aufwand dahinter ist beträchtlich. Das muss der Gast nicht wissen oder sehen. Aber er wird es geniessen. Sie und Ihre Mitarbeiter müssen konstant Spitzenleistungen abliefern. Was tun Sie, um abzuschalten?
Das ist ziemlich einfach: Ich habe zwei Töchter. Die interessieren sich kein bisschen für Restaurants. So machen sie mir das Abschalten einfach. Zudem schaue ich mir gerne Fussballspiele an. In diesen anderthalb bis zwei Stunden bin ich mit dem Kopf nur beim Fussball. Und wenn es die Zeit zulässt, spiele ich Golf. Wenn ich mich da nicht auf den nächsten Schlag konzentriere, geht er daneben. Woher holen Sie sich die Inspiration für die Gerichte?
Die vorhandenen Zutaten bringen mich auf Ideen, aber auch unsere Erfahrung. Ich koche seit 20 Jahren. Es gilt zu überlegen, welche Gerichte im Vorjahr besonders gut ankamen. Dann schaue ich mir neue Sachen an und spiele mit Neuem und Altem herum. So kommt man immer einen Schritt weiter und bleibt sich doch treu. Was werden Sie in Ihrem Restaurant nie kochen?
Solange die Zutaten hervorragend sind, würde ich alles zubereiten. In welchem Restaurant hatten Sie zuletzt so diese Freude, die Sie auch in Ihrem Betrieb dem Gast vermitteln möchten?
Bei Pascal Barbot im Astrance in Paris (bis 2019 drei Sterne, neu zwei; Anm. d. Red.) esse ich immer sehr gut, und der Service ist grossartig. Das Masa (drei Sterne) in New York gehört zu meinen Favoriten. Mein Besuch im Quintessence (drei Sterne) in Tokio ist zwar einige Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut: Es war grossartig. Im Dezember war ich mit meiner Familie zu einem sehr tollen Mittagessen im Noma (zwei Sterne) in Kopenhagen. Aber leider komme ich gar nicht so oft dazu, in diese Restaurants zu gehen. Wie oft sind Sie denn in Stockholm?
Fast immer. Und wenn nicht, dann bin ich geschäftlich unterwegs, meist in Hong­kong oder Singapur in unseren Restaurants. Da bleibt nicht viel Zeit, bei Kollegen zu essen. Die Spitzenköche Magnus Nilsson (Restaurant Fäviken, Schweden) und Jacob Jan Boerma (De Leest, Holland) verabschiedeten sich zuletzt aus der Dreisterne-Gastronomie. Wie lange machen Sie noch weiter?
So lange ich am Morgen aufstehe und Lust habe, zur Arbeit zu gehen. Und die Lust ist zurzeit sehr gross. Ich möchte noch so viele neue Gerichte kreieren. Ich kann mir derzeit nichts anderes vorstellen. Dennoch: Der Druck ist riesig. Die Sterne halten, Gäste, die viel bezahlen, konstant glücklich machen, sich immer weiterentwickeln. Wo sehen Sie denn noch Potenzial?
(lacht) Bei der Weinkarte, bei neuen Gerichten, neuem Porzellan, bei der Abstimmung zwischen den Gerichten mit passenden Getränken, bei Mitarbeiterschulungen. Und wir werden bei uns bald ein Chambre séparée mit eigener Küche eröffnen. Potenzial zur Weiterentwicklung gibt es immer überall. Auf welches Gericht, das demnächst aufs Menü kommt, freuen Sie sich besonders?
Ich komme gerade aus der Testküche. Wir sind an einem neuen Hauptgang dran, der nach der Wildsaison aufs Menü kommt: Lamm, karamellisierte Yuzu und Trüffeljus oder Jus aus fermentiertem schwarzem Pfeffer. Zurzeit gehören Ihnen vier Restaurants, eines ist in Hongkong, eines in Singapur. Kommen noch weitere hinzu?
Ja, dieses Jahr stehen ein paar Neueröffnungen an. Nicht im Fine-Dining-Bereich, sondern casual. Oder Premium Brasserien. Wie auch immer Sie dies nennen möchten. Können Sie uns mehr verraten?
In Stockholm kommt eines hinzu. Ein weiteres in Asien ist konkret geplant, aber im Moment wollen wir erst mal schauen, wie das mit dem Coronavirus weitergeht. In Gesprächen sind wir derzeit auch in New York, London, Sydney und auf den Malediven. Für das Ranking «The Best Chef» waren Sie 2019 der beste Koch der Welt, bei «The World’s 50 Best Restaurants» landeten Sie auf Platz 21. Wo liegt für Sie die Wahrheit?
Diese Listen interessieren mich nicht, ganz ehrlich. An dem einen Tag im Jahr, an dem das Ranking veröffentlicht wird, ist das spannend. An den anderen 364 Tagen nicht. Was zählt, ist ein volles Restaurant. Und wir hatten seit der Eröffnung des neuen Restaurants Frantzén im Jahr 2017 keinen freien Platz im Restaurant. Die Buchungsplattform für Ihr Dreisternerestaurant ist jeweils am 1. des Monats ab 10 Uhr offen für den darauffolgenden Monat. Das Restaurant ist von Mittwoch bis Samstag jeweils abends geöffnet. Lassen Sie Plätze für spontane Gäste oder Freunde frei?
Nein, wir behandeln alle gleich. Und das ist wohl mit ein Grund, weshalb wir in einem Ranking nicht weiter vorne landen: Auch Tester kriegen keinen Vorzug. Also bekommen sie vielleicht auch mal gar keinen Platz, weil das Restaurant schnell ausgebucht ist. Aber eben: Das grösste Kompliment für mich sind die vielen wiederkehrenden Gäste. Mir ist bewusst, dass 3500 Schwedische Kronen (355 Schweizer Franken; d. Red.) für ein Menü viel Geld ist. Wenn sie also nochmals kommen, zeigen sie, dass ihnen die Zeit bei uns sehr viel wert ist. Mittlerweile werden Ihre Gerichte vielfach kopiert. Macht Sie das stolz oder nervt das?
Ach, das schmeichelt mir doch sehr, wenn sich andere Leute von mir inspirieren lassen. Aber auch ich selbst kann das Rad nicht neu erfinden. Wie meinen Sie das?
Ich kann mich erinnern, als wir 2006 vor der Eröffnung des ersten Restaurants ein Dessert ausprobierten: Tomate, Zitronengras und Kokosnuss – ich war so begeistert. Als wir es zum ersten Mal servierten, meinte ein Gast: «Ah, das kenne ich von einem anderen Koch.» Wir wussten nichts davon, aber er hatte recht. Mein Executive Küchenchef Marcus Jenmark sagte mir mal: «Du kannst nichts Neues erfinden, es gab alles schon mal.» Aber das spielt ja keine Rolle. Es geht nicht um ein einzelnes Gericht, das es vielleicht schon mal irgendwo gab. Letztlich muss jeder Koch seinen eigenen Weg gehen. ---------------------------------------------- Silvio Germann (Restaurant Igniv, Bad Ragaz SG, 1 Stern / 17 Punkte):
«Ende 2015 eröffnete ich als Küchenchef das erste Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz SG. Andreas wollte, dass ich davor noch zwei, drei Erfahrungen sammle, und so durfte ich im September einen Monat lang im alten Restaurant Frantzén mitarbeiten. Die erste Woche verbrachte ich in der Produktionsküche, dann wechselte ich in die Serviceküche. Beim ersten Service hatte ich Gänsehaut: Jeder Gast wird persönlich begrüsst, und ich begann zu realisieren, welch komplettes Gesamterlebnis dem Gast hier geboten wird. So habe ich das noch nirgends erlebt. Beeindruckt hat mich auch die Harmonie im Team. Klar gibt es drei, vier führende Personen. Aber Teamwork ist bei Björn Frantzén das A und O. Er schenkt Vertrauen und gibt sein Wissen weiter. Obwohl ich nur kurz da war, stehe ich noch heute mit mehreren Köchen aus dem Restaurant in Kontakt. Im vergangenen Herbst war ich zum Essen da. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so reduzierten und doch so guten Hauptgang – dieses Lamm vergesse ich nie mehr.» ---------------------------------------------- Das Restaurant Frantzén im Test
Der erste Eindruck im Restaurant Frantzén: ein hoher Kühlschrank mit grossen Fischen. Darüber stehen Gläser mit eingemachten Früchten. Im Lift hoch läuft animierende Rockmusik. Dann geht es in eine stilvolle Lounge, wo die ersten Häppchen serviert werden. An der Theke zeigt ein Koch – total sind es 40 Mitarbeiter im Frantzén – die frischen Produkte, die man später zubereitet kriegt: Birnen, Zitronen, Eier, Langustinen, Lamm, Kaviar. Zum ersten Löffel Kaviar gibts einen Schluck Wodka. Dann wird man an den Platz an der Eckbar geführt. In der Mitte wird zubereitet. Es folgt ein mehrgängiges Menü. Der Service ist sehr aufmerksam, gibt sich aber locker. Das Essen ist wahnsinnig schmackhaft und vielfältig. Viele Gäste tragen Jeans und Pullover. Nach dem Essen lässt man den Abend in der Lounge ausklingen. Im Lift herunter erklingt ein anderes Rock-Lied: «Should I Stay or Should I Go» von The Clash – soll ich bleiben oder gehen? Man würde gerne antworten: Ich möchte bleiben.