Gastronomie

«Ich will Gas geben»

Andrin Willi – 05. Juni 2019
Vor zwei Jahren hat der junge Schaffhauser Koch Cornelius Speinle seine Stelle als Küchenchef im Restaurant Lakeside im Hamburger Luxushotel The Fontenay angetreten – und sich gegen die Selbständigkeit in der Schweiz entschieden. Zeit für einen Zwischenbericht von der Alster.

Mit dem Restaurant Dreizehn Sinne im Huswuurz in Schlattingen haben Sie sich im Alter von 27 Jahren selbständig gemacht und dort auch einen Michelin-Stern erkocht. In Hamburg wurden Sie auf Anhieb mit 17 Punkten im Gault-Millau und einem Stern im Guide Michelin ausgezeichnet. Ist das Angestelltsein besser als die Selbständigkeit?
Cornelius Speinle: Das eigene Restaurant hat mir die Augen geöffnet. Wir hatten keine Bank im Rücken, jeder Lichtschalter hat Geld gekostet. Mit dem Taschenrechner habe ich mir abends ausgerechnet, ob ich mir einen Bar de Ligne leisten kann oder nicht. Einfach war es nicht, aber ich habe sehr viel gelernt in dieser Zeit. Vielleicht war die Selbständigkeit der ausschlaggebende Grund, dass ich als unternehmerisch denkender, junger Koch überhaupt hierher kommen durfte.  Ich wiederhole die Frage: Ist es in der Spitzengastronomie einfacher angestellt oder selbständig erwerbend zu sein?
Als Angestellter ist es nicht einfacher, es ist anders. Früher wohnten wir über dem Restaurant. Wenn das Telefon am Sonntag klingelte, haben wir es abgenommen. Hier haben wir ein Reservationsteam. Wir müssen keine Flaschen entsorgen oder den Rasen mähen, die Fenster putzen und das Restaurant am Montag zeigen. Das macht den Unterschied. Der Druck ist ein anderer, aber ich arbeite keineswegs weniger als früher, meine Arbeit ist jedoch fokussierter. Und noch ein Punkt … Ja, bitte.
Wer glaubt, dass es mehr Mitarbeitende einfacher machen, täuscht sich. Der Wechsel von Schlattingen nach Hamburg klingt wie ein Märchen. Der Besitzer des Hotels The Fontenay, Klaus Michael Kühne (Kühne + Nagel), hat Sie vom Fleck weg engagiert. Haben Sie jetzt die Narrenfreiheit, die sie vorher vermissten?
Nein. Wir halten uns an Budgets und führen das Restaurant Lakeside, wie wenn es unser eigenes wäre. Sie leben jetzt in einer anderen Welt, in den Bau des Hotels wurden 100 Millionen Euro investiert.
Selbstverständlich ist das The Fontenay eine andere Bühne. Ich bereue den Schritt nicht, es war die richtige Entscheidung, die ich mit meiner Frau Kirstin und ein bisschen auch mit unserem Sohn Vince getroffen habe. Dennoch: Im Alter von 30 Jahren eine solche Chance zu erhalten, kommt nicht alle Tage. Worin liegt der Vorteil aus beruflicher Sicht? 
Wir sind hoch spezialisiert. Jeder und jede ist auf seine und ihre Art und im Metier unglaublich gut ausgebildet, auch wenn wir ein sehr junges Team sind. Der Chef-Pâtissier im Hotel ist Marco D’Andrea. Er wurde gerade Pâtissier des Jahres. An meiner Seite stehen zwei Souschefs, sodass ich dieses Gespräch hier in Ruhe führen kann. In den Restaurants werden Sie in Sachen Wein von Stefanie Hehn beraten, sie ist Sommelière des Jahres 2019. Das ist ein Quantensprung, verglichen mit dem, was in Schlattingen möglich gewesen wäre. Konkret sprechen wir von 20 Angestellten für 10 Tische.
Wenn wir im Lakeside ausgebucht sind, dann sprechen wir von 43 Plätzen, und im Private-Dining-Raum haben wir nochmals einen Tisch mit 10 Plätzen. Man muss ein solches Restaurant wollen.
Natürlich hätte man an dieser Lage auch eine Suite einbauen können, die man für 15 000 Euro vermieten könnte. Das verlangt weit weniger Personal, aber unser Besitzer wollte ein ausgezeichnetes Restaurant. Erfahrungswerte hat er in seinem Hotel auf Mallorca gesammelt, welches ein Zweisternerestaurant beherbergt. Wo liegt Ihr Ziel? 
Ich will Gas geben, wenn ich es jetzt nicht mache, mache ich es auch später nicht. Meine Frau stammt aus einer Gastrofamilie, sie hält mir den Rücken frei. Zu Beginn mussten wir in der Lakeside-Küche eine Basis schaffen. Wenn ich jetzt auf die ersten Gerichte schaue, dann hat sich unser Stil um 360 Grad verändert. Wir sind viel eleganter in der Präsentation geworden, bringen tiefere Aromen in die Gerichte, dies bedeutet auch mehr Handgriffe. Unser Stil ist komplex, raffiniert, und wir ersetzen permanent ein Gericht nach dem anderen. So sehen wir die Entwicklung, Schritt um Schritt. Unser Ziel ist es, das Niveau konstant zu halten, langsam besser zu werden und den Spass an der Arbeit nicht zu verlieren. Gab es etwas, das Sie in Hamburg im Unterschied zur Schweiz erstaunt hat?
Ich dachte: Hamburg, Norden, Wasser, Fisch, Fischmarkt, alles klar. Das Thema Fisch war in meinem Kopf schnell abgehakt, und so habe ich mir bereits in der Schweiz Gedanken zu Fleischlieferanten gemacht. In der Realität ist das Gegenteil zutreffend. Fleisch in der angemessenen Qualität zu bekommen war kein Problem. Den Fisch lassen wir uns mittlerweile dreimal pro Woche aus Köln liefern. In der Schweiz ist der Fachkräftemangel ein brisantes Thema. Wie sieht es in Ihrer Küche aus?
Es ist auch bei uns so, dass es schwierig wird, Nachwuchs zu gewinnen und ihn zu halten. Wir kriegen Bewerbungen, aber für viele junge Leute zählt heute die Freizeit mehr als die Arbeit. Im The Fontenay hat man sich intensive Gedanken dazu gemacht. Es werden überdurchschnittliche Löhne und Benefits geboten, beispielsweise gibt es ein schönes Mitarbeiterrestaurant mit Terrasse und einem eigenen Koch. Zusätzlich gibt es ein System, das Vergünstigungen und je nach Länge der Betriebszugehörigkeit Vorteile bietet. Bei 180 Mitarbeitenden summiert sich das. Wie die Überstunden?
Die sind in Deutschland ein grösseres Thema als in der Schweiz. Wir stempeln. Bei uns wird jede Minute in Freizeit vergütet, die Deutschen sind bezüglich Arbeitszeiten strikter. Unser Vorteil ist, dass die Fachleute, die im Fine Dining arbeiten wollen, wissen, was sie erwartet. Weltweit unterscheiden sich Spitzenrestaurants diesbezüglich kaum. Aber, auch wenn ein Koch das weiss und mit Herzblut dabei ist, müssen wir uns an die Zeiten halten. Das heisst?
Die reguläre Arbeitszeit beträgt 8 Stunden. Überstunden passieren – aber wir gehen nicht über maximal 10 Stunden hinaus, exklusive den Pausen dazwischen. Wir essen zum Beispiel alle während 45 Minuten gemeinsam zu Abend. Wie sieht ein überdurchschnittlicher Lohn in der Küche vom Lakeside aus? 
Natürlich ist das weit weniger, als in der Schweiz bezahlt wird, wobei auch die Lebenskosten tiefer sind. Also verdient bei uns ein ausgelernter Koch, ein Chef de Partie, derzeit rund 2500 Euro. Hinzu kommen die Benefits und eine Option auf mehr Lohn bei guter Leistung. DIE «ENTDECKUNG DES JAHRES» IN HAMBURG
Cornelius Speinle (32) ist mit vier Geschwistern in Schaffhausen aufgewachsen. Den Kochberuf hat er bei Roger Wehrle im Theaterrestaurant erlernt. «Er hat das Potenzial in mir erkannt», so Speinle. Und er vermittelte ihn weiter an Peter Moser, ins Le Quatre Saisons nach Basel. «18 Punkte, 1 Stern, es war grossartig, vor allem weil meine heutige Frau dort im Service gearbeitet hat», erzählt er. 2007 zog es ihn zu Klaus Erfort (als der dritte Stern kam) und weiter zu Sven Elverfeld und zu André Chiang nach Singapur, wo er als Souschef arbeitete. Nächste Station? Heston Blumenthal, Fat Duck. 2016 wurde Cornelius Speinle von Gault Millau zur «Entdeckung des Jahres» gekürt, 2018 als «Schweizer Star im Ausland».