Gastronomie

Es ist ein Stück vom Paradies

Peter Grunder – 18. Oktober 2017
Das Lokal ist eine Legende des 20. Jahrhunderts. Inzwischen sind neue Kapitel hinzugekommen.

«Das Restaurant ist für uns ein bisschen wie ein erwachsener Sohn», sagt Anabela Rui am Ecktisch unter dem legendären Wandbild von Lindi, «oder wie ein adoptiertes Kind mit seiner ganzen Geschichte, seinen Fehlern und seinen Qualitäten». Für ihn sei es «das schönste Restaurant», ergänzt Anabelas Ehemann Rui, über dies habe er «die einfachste Kundschaft».

«Das schönste Restaurant und die einfachste Kundschaft»
Das sei nicht zu vergleichen mit den üblichen Normen der Gastronomie: «Es ist ein Stück vom Paradies, hier zu arbeiten.» Pachecos, die aus Portugal stammen, waren schon lange in der Schweiz und hatten bereits zwei kleine Kinder, als Rui 2001 das Commerce mitten in der Berner Altstadt übernahm. «Wir wussten nicht, worauf wir uns einliessen», erinnern sich die  beiden einhellig. Im inzwischen geschlossenen Berner Restaurant Schosshalde, wo er damals arbeitete, habe ihn ein Gast auf die Gelegenheit aufmerksam gemacht, erzählt Rui. «Es war sein Traum», sagt Anabela, «und es war für mich klar, das mit meinem Mann zu machen». Rui hatte eigentlich Maître d’Hôtel werden wollen. Aber er sah den langen und unwägbaren Berufsweg und entschied sich nach der Lehre im Servicefach für die Ausbildung zum Gastronomen – es war die Epoche von selbstverständlichen Fähigkeitsausweisen und von Artikel41 mit verkürzten Lehren für langjährige Angestellte. «Auf dem Papier war es einfach, aber in der Realität war es am Anfang schwierig», blickt Rui auf die Anfänge im Commerce zurück. Da war zum einen die Geschichte des Lokals, das heuer seinen 70. feiern kann: Das Commerce hatte sich spätestens ab den 1950er Jahren einen Ruf wie Donnerhall geschaffen.
«Auf dem Papier war es einfach, in der Realität weniger»
Ob Ursula Andress oder Samuel Beckett, ob Jean-Paul Belmondo oder Liselotte Pulver, Harald Szeeman oder Louis Armstrong, der Stadtpräsident oder der Bundesrat: Im Commerce assen und tranken und trafen sich Promis jeder Güteklasse – derweil sich nebenan Handwerker verköstigten oder Gastarbeiterexotische Spezialitäten wie Paella oder Pulpo genossen. Das Commerce war nicht nur Szenelokal, sondern auch ausländisches Spezialitäten-Restaurant: Nach seinen Anfängen als Schenke wurde es namentlich unter Führung von Juan und Marie-Louise Augé von der Küche bis zum Service Ausdruck spanischer Lebensart – Lindis Wandgemälde mit dem Stier und dem Torero ist eine grossartige Reminiszenz. Das alles wussten Anabela und Rui Pacheco nicht, als sie 2001 anfingen.
«Wir schreiben dieGeschichte mit unseren Gästen weiter»
Sie kamen in ein typisches, langgezogenes, schmales Berner Altstadtlokal, das seine besten Tage längst hinter sich hatte: «Wir kannten die Geschichte nicht», sagt Anabela, «aber als wir sie von unseren Gästen nach und nach hörten, verliebten wir uns und schreiben die Geschichte nun gemeinsam mit unseren Gästen weiter». Das könne fast nicht schief gehen, ergänzt Rui: «Wenn man sich wirklich engagiert, wenn gute Produkte, eine gute Küche und ein guter Service zusammenkommen». Pachecos, die das Commerce inzwischen kaufen konnten und kürzlich eine neue Küche einbauen liessen, bieten nach wie vor iberische Spezialitäten. Und sie sind mit ihren fünf Mitarbeitenden und dem runden Dutzend Tischen mittags und abends so populär, dass Reservationen fast unumgänglich sind. In den Randzeiten, als ehe dem Künstler und andere Zecher wenig Umsatz und viel Risiko bargen, ist das Commerce indes geschlossen. Der Attraktivität hat das keinen Abbruch getan. Statt der mausarmen Bohème kehrt nun das Establishment jeglicher Provenienz ein: Politiker und Beamte aller Couleur, Bonvivants und Habitués –praktisch nur Stammgäste aus tout Berne und von weiter her. «Die Künstler gibt es noch, aber weniger bei uns», meint Anabela. «Wir haben bei der Kundschaft eine gute Mischung», findet Rui. Und was ihn besonders freue, seien die vielen relativ jungen Leute: «Sie entdecken und schätzen dieses Normale.»