Zuerst sieht man nur rot. Es ist die Kochmütze von Adem Özütürk, sein Markenzeichen. Gleich darunter: sein unglaublich freundliches Gesicht. Der 56-Jährige steht am Eingang zur Wirtschaft zum Schlössli Haggen. Er zeigt auf den Schlösslihang ennet der Strasse, wo die Quartierkinder im Winter am kleinen Lift Skifahren lernen, gleich nebenan steht am nun grünen Hang die St. Wolfgangskapelle, die ihm manche Hochzeits-, Tauf- und Konfirmationsfeiern beschert. Etwas weiter hinten beginnt der Wald, wo er oft Kräuter sammelt, nebenan führt die «Ganggelibrogg» hinüber ins Appenzellerische – sein Revier für frische Pilze.
Seit zehn Jahren ist Özütürk Pächter und Küchenchef der Wirtschaft zum Schlössli Haggen am St. Galler Stadtrand. Ein frühbarockes Juwel mit Erkern, hellen Holzdecken, weissen Wänden und seit über 350 Jahren ein Gasthaus. «Als ich vor zehn Jahren hierherkam, hatten viele Angst, es gäbe nun ein Kebabhaus», sagt der gebürtige Türke lachend. «Heute sind sie Stammgäste. Ich wurde sehr herzlich im Quartier aufgenommen.» Er lebt auch im Haus, zusammen mit seiner Frau Gülsüm (37), sie verantwortet die Serviceleitung im Schlössli.
Özütürks Weg ins Schlössli war lang. Als Teenager kommt er aus der Türkei in die Schweiz. Seine Eltern leben bereits hier. «Ich bin quasi als Familiennachzug 1983 eingereist», erzählt er. Als er am 1. Mai 1983 in Zürich landet, trägt er kurze Hosen. Auf dem Weg nach St. Gallen beginnt es zu schneien. «Ich lebte in der Türkei in der Nähe von Pamukkale auf 1300 Metern, dort ist es auch kalt, aber nicht so!», erzählt er. Er sei damals von den vielen Produkten im grossen Migros fasziniert gewesen, die so schön angeordnet waren. «Ich dachte, dies muss das Paradies sein!» 1985 entscheiden sich die Eltern plötzlich zurückzugehen, er bleibt. «Ursprünglich wollte ich nicht herkommen und nachher nicht mehr zurück», sagt er.
Gastro? Das kann jeder!
In der Gastronomie landet er durch Zufall. Özütürk findet Arbeit als Spüler im Restaurant Gartenhaus in St. Gallen. Niemand in seiner Familie kommt aus der Branche. Im Gegenteil: Für sie gelten Gastroberufe nicht als Berufe, das könne jeder. Nach zweieinhalb Jahren wird er zum Buffetburschen befördert. Daneben besucht er Deutschkurse. Doch nie am Stück. Hat Özütürk etwas gespart, bezahlt er jeweils den nächsten Kurs. Nach knapp fünf Jahren wechselt er ins Restaurant Alte Pfeffermühle, in den Service. Dort lernt er viel vom Chef de Service, einem Herrn aus Wien, etwa die klassischen Disziplinen wie Fisch filetieren oder flambieren. «Damals wurde noch viel öfter direkt vor dem Gast gearbeitet. Ich war interessiert und im praktischen Bereich bald besser als die gelernten Kellner», erzählt er. «Für mich war von Anfang an klar, wenn ich schon in der Gastronomie arbeite, dann will ich alles können.»
Es folgen sechs Jahre im Mövenpick-Betrieb Stadtkeller, wo er sich zum Chef de Service und Betriebsassistent hocharbeitet, daneben macht er das Wirtepatent und die Sommelierausbildung. Er spart und nimmt zwischendurch ein halbes Jahr unbezahlte Ferien, um in Neuenburg Französisch zu lernen. «Alle Küchen- und Serviceausdrücke waren damals auf Französisch, ich verstand die meisten Ausdrücke nicht. Was ist Béchamel? Was bedeutet Premier Cru? Es gab noch kein Internet, wo man schnell hätte nachschauen können !» Er lebt nach dem Credo: Arbeiten, Leben, Sparen, Weiterbildung. «Auch ich hatte nicht immer Lust am Lernen, aber ich habe nie die Freude verloren», sagt er. Und wenn er fragte, bekam er Unterstützung. Bei guten Leistungen seien alle gewillt, einen zu helfen. «Sie haben sich die Zeit genommen, die sie nicht immer hatten», führt er aus. «Aber man muss beharrlich sein.»
Zur rechten Zeit am richtigen Ort
Dann holt ihn der St. Galler Gastropapst Köbi Nett ins Neubädli, dem ersten Sternerestaurant in St. Gallen, wo Özütürk die Servicelehre absolviert. Nach einer weiteren Stelle im Hotel Bad Horn hat er genug vom Servieren – und beginnt als Weinberater bei Fusters Wy-Bude. Die Liebe zum Wein ist ihm bis heute geblieben, vor allem für Gewächse aus dem Bordeaux. Und er erweitert seine Kenntnisse gern auf Weinreisen.
«Irgendwann erreichte ich einen Punkt, wo ich mir überlegte, was möchte ich weiterhin machen?», erzählt der Haggen-Wirt. «So begann ich mit 35 die Kochlehre im Restaurant Engelis und wurde nach zwei Jahren zusammen mit Chef- und Gourmetkoch Ruedi Staffa ins Hotel St. Gallen versetzt.» Dieses übernimmt Özütürk im Anschluss als Betriebsleiter und Chefkoch und etabliert es als feine Genussadresse. Den Namen wechselt er zu Benedikt, eine Reverenz an die ehemalige Benediktinerabtei nebenan. Er ist stark an der Sankt Galler Geschichte interessiert. Nicht nur kennt sich Özütürk in St. Gallen sehr gut aus, man kennt inzwischen auch ihn. Von diversen Vereinen, in denen er Mitglied ist, vom Ausgang, aber vor allem von den Restaurants. Neun Jahre bleibt er im Benedikt.
Dann erzählt ihm der Präsident der Ortsbürgergemeinde vom Schlössli Haggen und meint, dies sei ein Lokal für ihn. «So habe ich mich als Pächter beworben, und es hat geklappt», sagt er. Zur rechten Zeit. Das Schlössli war jahrzehntelang eine bürgerliche Quartierbeiz. 2007 wird es saniert; die neuen Pächter planen ein Gourmetbetrieb, doch das funktioniert nicht. Özütürk erkennt sofort, was es hier braucht und was sich das breite Gästesegment wünscht. «Wir haben erstens eine Verantwortung im Quartier», führt er aus. «Und zweitens kommen nachmittags Spaziergänger und Wanderer oder Leute von der Stadt, sie alle möchten einkehren. Deshalb haben wir von 11 bis 23 Uhr durchgehend geöffnet.»
Und abends dinieren Menschen aller Schichten und Altersklassen im Schlössli – von Verwaltungsrätinnen über Studenten bis zu Gästen auf Bundesratsebene. «Letztere kommen privat zu uns», sagt er. Welche, verschweigt er diskret. Aber ob berühmt, wohlhabend oder nicht, eines hat er im Laufe seiner Karriere gelernt: «Wenn die Sankt Galler dich einmal akzeptiert haben, kommen sogar ihre Enkelkinder zu dir.»
Adem Özütürks Erfolgsgeheimnis für eine Gastrokarriere von null auf hundert: «Die Arbeitswoche hat fünf Tage, nimmt man noch eine Nacht extra dazu sowie Engagement und Passion erreicht man sein Ziel.» (Bild: Daniel Winkler)
Auberginentatar, Kalbsleberli und polynesisches Curry
Seit diesem Jahr ist Özütürk Mitglied der Gilde etablierter Schweizer Gastronomen. «Für uns Köche ist die Aufnahme in die Gilde eine grosse Bestätigung – für unsere tägliche Arbeit und für unsere Leidenschaft.» Und diese Leidenschaft spiegelt sich in seiner klassischen Küche mit Glanz und Raffinesse wider. Die Schlössli-Gerichte sind von mediterranen, türkischen und asiatischen Einflüssen geprägt. Die Auswahl reicht vom Auberginentatar mit geröstetem Brot, Kräuter-Pflücksalat mit Granatapfeldressing über gutbürgerliche Klassiker wie Kalbsleberli mit knuspriger Rösti, Voressen oder Gitzi bis zu polynesischen Currys. Özütürk ist fasziniert von Polynesien. «Dorthin geht meine nächste Reise», sagt er mit leuchtenden Augen.
Mindestens viermal jährlich passt er die Karte saisonal an. Das beliebte Schlossmenü, ein Fine-Dining-Sechsgänger für 109 Franken, wechselt monatlich. Da kommt dann zum Beispiel eine fruchtige Zitronengrassuppe mit Jakobsmuschel ins Spiel, eine Entenbrust mit Entenleber auf Basilikumhummus, ein Wolfsbarschfilet mit Orangen-Rüebli-Risotto oder eine geschmorte Kalbsbacke sowie eine Matcha-Mousse zum Abschluss. Die Inspiration zu seinen Kreationen findet er in sich selbst. Er geht sehr gerne auswärts essen, um zu sehen, mit was andere Köche brillieren, und er beobachtet Trends, etwa was in den 500 besten Restaurants der Welt gerade angesagt ist. Gefällt ihm etwas, adaptiert er es nach seinem Stil.
Alles, was möglich ist, wird in der Schlössli-Küche selbst zubereitet, bis auf die Pasta. Die Ravioli bezieht er bei einer kleinen Manufaktur in Bern, und die Tagliolini fertigen zwei Italienerinnen aus der Nachbarschaft für ihn an. «Mit meiner Nudelmaschine, die bei ihnen steht», fügt Özütürk lachend an. Er selbst mag am liebsten Ghackets mit Hörnli und im Sommer einen Wurstsalat. Nach all den Jahren in der Schweiz ist nicht nur sein Gaumen längst assimiliert. Ganz anders zu seinen Anfangszeiten in den 1980er-Jahren, damals war das schweizerische Essen für ihn völlig anders und vor allem ungewohnt. «Viel Fleisch, Kartoffeln in allen Variationen und wenig Gemüse», sagt er lachend. «Jedes Gemüse war gedämpft, und es gab immer Mandelsplitter auf dem Broccoli!»
«Es ist ein Beruf des Dienens, das muss man können»
Auch nach zehn Jahren im Schlössli Haggen ist Özütürk motiviert wie am ersten Tag. Stillstehen ist keine Option. Es sei wesentlich, an sich zu arbeiten und sich positiv zu formen. «Wenn man seinen Beruf während mindestens zehn Stunden am Tag ausübt, sollte man es gut machen, damit man Freude entwickelt und eine Passion entstehen kann», erläutert er. «Sieht man ihn nur als Job an, ist die Gastronomie die falsche Wahl. Logistiker wäre da passender.» Er versucht stets, seine Motivation an seine Mitarbeitenden weiterzugeben und Zeit für die Lernenden zu finden, damit diese von seinen Erfahrungen profitieren können. Aktuell hat er nur einen Kochlernenden. Es sei schwierig, gute Lehrlinge zu finden. «Sie kommen mit grossen Erwartungen und glauben, es gehe in einer Küche zu und her wie bei den Kochshows im Fernsehen», erzählt er lachend. «Dabei ist es ein Beruf des Dienens, das muss man können, auch wenn es einem nicht jeden Tag gelingt.»
Er ist davon überzeugt, dass eine Geschichte wie seine auch in der heutigen Zeit möglich ist. «Solange man den Willen hat und nie die Freude verliert, wird man sein Ziel erreichen», führt der Schlössli-Wirt aus. Er ist zufrieden mit all dem, was er erreicht hat. Freuen würde er sich, wenn seine Nachfolger einst sähen, was ihr Vorgänger geleistet habe, und er ihnen etwas hinterlassen könne. Und man vermutet, dass sich inzwischen auch seine Eltern mit seiner Berufswahl versöhnt haben und stolz auf ihn sind. «Ja, heute sind sie stolz auf mich, aber sie betrachten es weiterhin nicht als Beruf», sagt er schmunzelnd. «Ein Beruf bedeutet für sie Anwalt oder Doktor.»
Eine Rückkehr in die Türkei hat er nie in Betracht gezogen, St. Gallen ist zu seiner Heimat geworden, er besitzt auch den Schweizer Pass. «Wenn ich nach den Ferien in Zürich auf dem Flughafen lande, Winterthur hinter mir liegt und ich langsam nach Wil komme und den Säntis sehe, dann bin ich zu Hause.»