Gastronomie

«Ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel landet im Abfall»

Reto E. Wild – 02. Mai 2019
Teil der heiss diskutierten ­Klimapolitik ist «Food Waste» oder Lebensmittelver­schwendung: Sie produziert mehr CO2 als ganz Indien, sagt Lucie Rein, Schweiz-­Chefin von Too Good To Go. Sie sagt, was Gastronomen verbessern können.

Lucie Rein (28) ist Schweiz-Chefin von Too Good To Go. An der Bellerivestrasse in Zürich führt sie ein Team mit zehn Personen, fünf weitere werden noch gesucht. Die Aktiengesellschaft wurde 2016 in Dänemark gegründet. Rein, in Mulhouse geboren, ist französisch-schweizerische Doppelbürgerin, studierte Betriebswirtschaft und startete ihre Karriere im Marketing von Nestlé. Danach wechselte sie zum italienischen Nahrungsmittelkonzern Barilla und gründete im Juni 2018 den Schweizer Ableger von Too Good To Go. Wieso braucht es eine Organisation wie Too Good To Go?
Lucie Rein:
«Food Waste» ist ein globales Problem: Ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel landet im Abfall. Die Zahlen in der Schweiz sehen ähnlich aus. Wenn die Lebensmittelverschwendung ein Land wäre, dann hätte sie den drittgrössten CO2-Ausstoss nach den USA und China! Bei der Produktion werden viele Ressourcen verbraucht. Und schliesslich ist Food Waste auch ein soziales Problem: Die einen haben zu viel Essen und andere verhungern. 45 Prozent der Lebensmittelverschwendung entsteht übrigens in den Haushalten. Deshalb setzt sich Too Good To Go für Lebensmittelrettung ein. Die kostenlose App verbindet Betriebe wie Restaurants, Bäckereien oder auch Supermärkte mit Nutzern, damit diese gemeinsam Lebensmittel retten können. Können Sie das mit Zahlen belegen?
Seit dem Start in der Schweiz haben wir   am 29. April 243 823 Mahlzeiten gerettet. Alleine im April waren es über 40 000, während es im Januar 2019 noch 24 000 waren. Eine einzige Mahlzeit verursacht so viel CO2 wie 8,6 Minuten Autofahren, bei Sushi ist das noch mehr, bei Salat weniger. Und diese 243 823 Mahlzeiten entsprechen 80 Mal mit dem Auto um die Welt fahren! Wie haben Sie das geschafft?
Dank einem tollen Team und viel Leidenschaft. Wir melden monatlich viele Betriebe an, die bei uns mitmachen. Es reicht allerdings nicht, wenn diese ihre Mahlzeiten bei uns anbieten. Wir benötigen auch Menschen, welche die Mahlzeiten konsumieren, also retten wollen. Inzwischen erreichen wir durchchnittlich täglich 1800 Bestellungen von Essen. Das ist aber erst ein Anfang. Jedes Jahr werden 2,3 Millionen Tonnen Essen allein in der Schweiz weggeworfen – auf Feldern, im Einzelhandel, in der Gastronomie oder zu Hause. Über die Hälfte ist vermeidbar. Eine Familie gibt jährlich rund 850 Franken für Essen aus, das weggeworfen wird. Sie suchen nach Partnern wie Bäckereien, Restaurants, Cafés, Supermärkten oder Hotels. Wie gehen Sie vor?
Wir haben ein Team von fünf Aussendienstmitarbeitenden, die mit dem ÖV durch die Schweiz fahren und Too Good To Go vorstellen. Wir setzen auf Partner, die uns weiterempfehlen. Im April registrierten wir über 100 neue Betriebe, die mit uns zusammenarbeiten, und 100, die wir aktiv gesucht haben. Das genügt wohl nicht, um Lebensmittelverluste zu verhindern.
Ziel ist, dass wir keine Mahlzeiten mehr retten müssen. Aber zuerst gilt es, zu sensibiliseren, also auch die Politik und die Ausbildung – so, dass jeder versteht, was Food Waste wirklich heisst. Letztlich muss die Bevölkerung wissen, dass man beispielsweise Bananen im Kühlschrank optimal lagern kann, dass Joghurts auch drei Wochen nach dem Verfalldatum noch geniessbar sind. Dann muss sich auch der Detailhandel anpassen und nicht mehr bis zum Ladenschluss volle Regale anbieten. Ich hoffe, dass man in Zukunft einen Zuschlag bezahlen muss, wenn man das Essen nicht vollständig aufisst. Was raten Sie Gastronomen?
In der Küche Kitro einzusetzen. Das ist ein Abfallbehälter, mit dem man alles scannt, was weggeworfen wird, und nachher hilft die Software anhand von Statistiken, welche Lebensmittel weniger bestellt werden sollten. Es lohnt sich, besser zu planen. Klar, wenn man 200 Zutaten für die gesamte Menükarte benötigt, ist die Chance grösser, Lebensmittel zu verschwenden. Ratsam ist ebenso, kleinere Portionen anzubieten. Zu grosse Portionen führen automatisch zu Food Waste. Und Food Waste ist auch, wenn man die restlichen Lebensmittel an Tiere verfüttert, was ohnehin verboten ist. Zudem lassen sich aus übriggebliebenen Lebensmitteln schöne Gerichte kreieren, aus älteren Tomaten und Zucchetti etwa ein Ratatouille, aus nicht mehr frischem Brot Armer Ritter. Aber das weiss jeder Koch ohnehin viel besser als ich. Kritiker sagen, es sei ein soziales Problem, wenn man Mitarbeitenden Essresten mitgibt. Die Angestellten könnten denken, sie würden nur das erhalten, was die Kunden nicht mehr möchten.
Das ist falsch. Die Angestellten müssen es nicht annehmen. Es ist vielmehr ein Vorteil für sie. Wenn sie das Essen lieber kaufen wollen, ist das ja auch möglich.  Wie gehen Sie persönlich vor?
Wenn ich verreise, schenke ich den Inhalt meines Kühlschranks meinen Nachbarn. Sie sind sehr auf das Thema sensibilisiert. Bei uns im Büro gibt es ein Tablar, wo alle davon essen können. Food Waste ist bei uns strikt verboten. Zusammengefasst: Wie kann jeder Einzelne Lebensmittelverschwendung verhindern?
Auf Foodwaste.ch gibt es eine tolle Zusammenfassung. Clever einkaufen hilft sehr. Das hört sich eigenartig an: Aber es lohnt sich beispielsweise, ein Bild vom Inhalt des Kühlschranks zu machen, bevor man einkaufen geht. Man sollte nicht hungrig posten gehen und dabei besser kleinere Mengen und dafür öfter kaufen. Im Supermarkt gibt es so viele Anreize für Spontaneinkäufe. Und Too Good To Go nutzen: Hier kann man Lebensmittel eine halbe Stunde vor Ladenschluss kaufen, etwa bei 64 Migros-Filialen. _______________________________________________________________________________________ Angebot für Mitglieder
Too Good To Go setzt sich für weniger Verschwendung ein, eröffnet Gastronomen einen neuen Kundenkanal und sorgt so für zusätzliche Einnahmen. GastroSuisse schenkt allen Mitgliedern, die Neukunden von Too Good To Go sind, die Hälfte der ersten Jahresgebühr.