Den 28. April wird Adrian Hirt nicht so schnell vergessen. Er weilt bei seiner Freundin in Triesen FL, als der Anruf kommt. Er denkt an eine Übung, Hirt ist Mitglied in der Feuerwehr. Im Dorfkern von Tschiertschen GR angekommen, sieht er, wie sein eigenes Haus in Flammen steht. 70 Feuerwehrleute kämpfen gegen das Feuer, ausgelöst durch die Explosion einer Gasflasche in der unteren Einliegerwohnung. Bilanz: Zwei Schwerverletzte und das zerstörte AlpenHirt-Lädeli. Erst kürzlich gewann er damit noch im TV- Format «Mini Schwiiz, Dini Schwiiz». Auch der Balkon, auf dem er mit Köchin Rebecca Clopath einst S.D. Prinz Max von und zu Liechtenstein bewirtete, ist weg. «Es war ein Schock!», sagt Hirt.
Zum Glück liegen die Logistik und das Lager im Haus nebenan. So konnten die Geschäfte etwas reduziert weiterlaufen. Hirt (34) ist ein positiver Mensch. Er richtet über dem Lager ein neues Verkaufslokal für sein Trockenfleisch und die Salsize ein. Die vielen Hilfsangebote von Kunden und Freunden lassen ihn nach vorne schauen. Ganz nach Albert Einstein: «In der Mitte der Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten.»
Innovation und Tradition
Das Abenteuer AlpenHirt beginnt 2013. «Mir fiel auf, dass wir immer weniger Geld für Nahrung, dafür immer mehr für Krankenkasse und Medikamente ausgeben und die Menschen öfter an Allergien und Intoleranzen leiden», sagt Hirt. Daneben stellt er fest, dass allem Bündnerfleisch Pökelstoffe und Zucker zugesetzt werden. Er kann es kaum glauben, denn beides ist seit der Einführung des Kühlschranks hinfällig. Hirt beginnt Konventionen zu hinterfragen und besinnt sich nach zehn Jahren im Ausland (siehe Kasten) auf seine Wurzeln, auch kulinarisch: Er will traditionelles Bindenfleisch (Bündnerfleisch) aus gesunden Bündner Kühen ohne Zusatzstoffe herstellen: AlpenHirt ist geboren.
Als er dann noch das Dia vom bärtigen Urneni im Haus vom Neni (85) findet, weiss er sogleich, dass es seine Produkte als Logo zieren wird. Vom Urneni stammen die Rezepte, und der Neni brachte ihm die Bindenfleischherstellung bei, als Hirt noch ein Bub war.
Ein schönes Tierleben
Im Ausland hat Adrian Hirt gelernt, allen auf Augenhöhe zu begegnen. Das gilt auch für das Tier. Er kennt die Bauern, die ihm die Kühe liefern. Er verarbeitet nur regionale Bündner Tiere. Sie essen nur hofeigenes Futter, sind jeden Sommer auf der Alp, und die Mutterkuhhaltung garantiert eine natürliche Lebensform für Mutter und Kalb.
«Zu Beginn zerlegte ich noch jedes Tier selbst», erklärt Hirt. Inzwischen hat er dies ausgelagert. Im Moment werden ein bis zwei Tiere pro Woche in Trun GR geschlachtet und in Disentis getrocknet. Kein Tier hat einen längeren Transportweg als 40 Kilometer, und Hirt begleitet jedes von ihnen, wann immer möglich, bis zum letzten Atemzug. Das Durchschnittsalter einer geschlachteten Kuh liegt bei zehn Jahren. «Ihre Zellen liegen näher beieinander und haben dadurch weniger Wasser. Das verkürzt den Trocknungsprozess», erkärt Hirt. Die Zugaben zum Fleisch sind stets dieselben: Veltliner, Alpensalz und Biogewürze – fertig.
Fleisch- statt Schoggistängeli
Hirt verarbeitet das ganze Tier. Rücken, Filet und Huft wird zu Bergfleisch. Das Bindenfleisch entsteht aus dem Stotzen und wird gepresst. Die Hälfte der verbleibenden 70 Prozent werden zu Salsiz in verschiedenen Varianten verarbeitet, wie etwa der Hanfsalsiz. Der Hanf wächst vor der Stube. 20 Prozent der gesamten Fleischmenge, meist Schulter, endet als Wurstfleisch mit weniger als fünf Prozent Fett im «Farurer Baron». Er ist der Verkaufsschlager und indirekt nach dem Neni benannt. «Mein Neni hat oberhalb von Tschiertschen auf der Farur-Alp eine Jagdhütte. Der einstige Gemeindepräsident nannte ihn deswegen den ‹Baron von Farur›», erklärt Hirt.
Aus dem Baronfleisch werden neu auch Hirtenstöckli produziert, «Fleischstängeli» mit 44 Prozent Protein, die man abbeissen kann. Aus dem Rindertalg entsteht Bratfett, die Innereien enden als CarneBio Hunde- und Katzenfutter. Nur für den Darm hat niemand Verwendung.
Die Kuhtransparenz
Jeder Schritt passiert in Handarbeit. Das Fleisch wird nie gemixt, in jedem Produkt ist nur das Fleisch von einem Tier drin. Durch die Nummer oder das Datum auf dem Etikett ist es gar bis auf die Alp zurückverfolgbar. Hirt nennt dies «Kuhtransparenz», auch wenn viele Leute nicht wissen wollen, dass das Fleisch auf dem Brättli mal ein Tier war.
AlpenHirt hat etwa zehn verschiedene Produkte im Sortiment. Dazu gehören der fast fruchtige Alpschwein- oder der zarte Schafsalsiz. Dazu kommt sortenreines vom Hirsch und Stier, seltener von Esel oder Geiss. Aber auch Frischfleisch.
Der Urneni als Corporate Identity
Es läuft mittlerweile ganz gut, vier Personen arbeiten bei AlpenHirt. Zu Beginn war es anders. Man stelle sich vor: Da ist einer zehn Jahre lang weg, kommt in ein 250-Seelen-Dorf zurück und beginnt – auf ganz andere Weise als alle anderen – Bindenfleisch zu verkaufen. Es hat etwas Sanft-Rebellisches, wie er an Konventionen rüttelt. Auch wenn er gar nicht anders kann, muss es doch gut überlegt sein. Das Trocknen braucht ein halbes bis ein Jahr Zeit, da ist eine in Fleisch investierte Viertelmillion schnell weg.
«Am Anfang lachten mich alle hinter vorgehaltener Hand aus», sagt Hirt rückblickend. «Heute nicht mehr! Ich führte in den letzten drei Jahren über 150 Events im AlpenHirt-Lädeli.» Dazu kommen 100 Messeauftritte und Anlässe sowie der samstägliche Churer Wochenmarkt. Heute kann er von seiner Arbeit leben. Nach dem Brand heisst das Wort des Moments: sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren.
Dank seiner Unermüdlichkeit kennen viele Leute die Produkte mit dem bärtigen Urneni. «Er half uns, in kurzer Zeit mit einer neuen Marke Bekanntheit zu erlangen», sagt Hirt. «Fast alle fragen: Wer ist das? Bud Spencer? Che Guevara?» AlpenHirt beliefert zurzeit 120 Kunden in der Deutschschweiz, vom kleinen Bioladen bis zum grossen Gourmetverteiler, sowie vom rustikalen Bergbeizli bis zur Hochgastronomie. Auch Spitzenkoch Andreas Caminada empfiehlt die Produkte vom AlpenHirt. Und bei Gästen kommen natürliche und qualitativ wertvolle Lebensmittel immer gut an. «Wir beliefern die Gastronomie sehr gern», sagt Hirt. «Doch unser Produkt muss auf der Speisekarte mit AlpenHirt vermerkt sein und soll nicht als Eigenprodukt verkauft werden», sagt Hirt. Interessant ist auch sein Ganz-Tier-Angebot: 150 kg Trocken- plus das Frischfleisch.
Das grosse Hoffen auf Generation
Hirt denkt ganzheitlich. Der Fleischkonsum steige seit Jahren, und jeder könne sich heute Fleisch leisten. Er hofft auf die Generation Y (1980 bis 1995 Geborene), welche als sinnsuchend gilt und wissen will, woher ihre Nahrung stammt. «Der Meat-Point ist erreicht», sagt Hirt. Es geht darum seltener Fleisch, dafür qualitativ gutes Fleisch zu essen. «Fast jede Familie hat zwei Autos, eine teure Wohnung und fährt zwei Mal pro Jahr in die Ferien. Aber Lebensmittel sollen so billig wie möglich sein», ereifert sich Hirt. «Das ist nicht sinnvoll. Nahrung ist unsere Medizin!»
Hirt möchte den Leuten den Wert von Lebensmitteln wieder näherbringen. Man spürt, wie wichtig und ernst es ihm damit ist. Wahrscheinlich ist eher er der sanfte Che Guevara in seiner Ahnenreihe.
★ Von Jamaika bis Mosimann
2013 fährt der Bündner Adrian Hirt (34) nach London, um Anton Mosimann sein Bindenfleisch vorzustellen. Er mochte es, und das gibt Hirt Selbstvertrauen weiterzumachen – auch wenn er bis heute nicht ins Ausland exportieren darf. Hirt ist Chemielaborant und Lebensmittelingenieur, absolvierte ein Metzgerpraktikum, arbeitete auf einer Rinderfarm in Kanada und leitete eine Metzgerei auf Jamaika. Danach kehrt er ins heimatliche Tschiertschen GR (1350 m ü. M.) zurück, arbeitet bei einem Grossmetzger, meldet sich für einen Master in Wirtschaft an und gründet AlpenHirt. Sein nächstes Projekt: Er wird im September 2019 heiraten.
Gastronomie
Der sanfte Che Guevara aus den Alpen
Corinne Nusskern – 15. Juli 2019
Adrian Hirt produziert Trockenfleisch und Salsiz ohne künstliche Zusätze nach der Tradition seines Urgrossvaters, dem Urneni – auch für die Gastronomie. Und zwar dort, wo das Bündnerfleisch noch von Bündner Kühen stammt.