Gastronomie

Das hohe C des Geschmacks

Corinne Nusskern – 18. April 2019
Der Gastrophysiker Charles Spence erforscht wie Essen mit passender Musik besser schmeckt. Und erklärt, was Nina Simone und Justin Bieber damit zu tun haben.

Charles Spence ist Professor für ex- ­perimentelle Psycho­logie im Crossmodal Forschungslabor an der Universität Oxford und nennt sich Gas­­tro­physiker. Eines seiner Forschungsgebiete widmet sich der Auswirkung von Musik auf den Geschmack des Essens. Der 49-jährige Engländer ist Träger des IG Nobel Prize, ein satirischer Anti-Nobelpreis der wissenschaftliche Leistungen ehrt, welche die Menschen erst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen. Er ist verheiratet, lebt neun Mo­nate pro Jahr in Oxford und drei Monate in Kolumbien. Weilt er in der Schweiz, isst er am liebsten im Restaurant von Denis Martin in Vevey. Der Mann hat Humor. Er sitzt im Gotthard-Saal des Park Hotel Vitznau über sein Mittagessen gebeugt und ist sofort mitten im Erzählen. «Haben Gäste an einem Buffet die Wahl zwischen italienischen und spanischen Speisen, wählen sie unbe­wusst die Gerichte des Landes, dessen Musik im Hintergrund gespielt wird», sagt er. Professor Charles Spence beschäftigt sich mit der sensorischen Wahrnehmung von Le­bens­mitteln, wie der Wechselwirkung von Essen und Musik.  «Musik kann Gaumen reinigen, den Geschmack beeinflus­sen und das Esserlebnis in­tensivie­ren.» Sein Forschungsgebiet des akustischen Wür­zens (Sonic Seasoning) ist experimentell und verspielt. Dies belächeln manche seiner Akademikerkollegen, halten es für in­te­ressant, allenfalls lustig, aber nicht für seriös. Wissenschaft soll ernst sein, sobald sie Spass macht, sei es keine Wis­senschaft mehr. Professor Charles Spence hingegen ist es todernst damit.


Von einer Schweizerin inspiriert
Eine ganze Sinfonie
Um Musik erfolgreich mit Kulinarik zu verbinden, kommt es auf die Typologie der Musik an. Saure Musik klingt scharf und unharmonisch. Für bittere Musik stehen tiefe Töne wie jene in Carmina Burana oder bei den gregorianischen Chören; ein Vertreter der süssen Musik mit ihren dünnen und eher hohen harmonischen Tönen ist Mike Oldfield. Des Weiteren gibt es noch cremige, salzige oder scharfe Musik. Ist es möglich, einen Song zu komponieren, der perfekt zu einem bestimmten Gericht passt? Der Professor nickt und führt aus, dass bei einem vielschichtigen Gericht zum Beispiel eines mit bitteren und blumigen Noten und einer seidigen Komponente, die passen­de Musik verwendet werden kann, um den Gast mehr zu diesem oder jenem Geschmack hinzuleiten. «Chef Denis Martin in Vevey serviert ein Gerichte auf ei­nem Löffel. Es besteht aus Thunfisch, weisser Schokolade, Wa­sa­bi und Himalayasalz», schwärmt Spence. «Das Erlebnis im Mund spielt sich in vier Sequenzen ab. Zuerst löst sich das Salz auf, dann entfaltet sich der Wasabi, gefolgt von der Fettigkeit des Thunfischs mit der schmelzenden Schokolade. Es wäre toll, dafür Musik zu komponieren! Es wäre eine ganze Sinfonie…»
Die Schweiz macht mit
Jeder Gastronom kann profitieren
Wer im Restaurant oder Hotel etwas ändern möchte, soll es einfach mal probieren, die Investionen seien minimal. Spence rät, jungen und passionierten Köchen zu erlauben, ihren iPod während der Arbeit anzustellen. Und die Musik im Gastraum zu wechseln. Denn es gibt tatsächlich Musik, die zu jedem Gericht passt. Spence lächelt. «Es sind die Songs der Black-Classical-Music-Sängerin Nina Simone. Auch Ambientmusik funktioniert.» (Weitere Tipps des Professors am Ende des Artikels. Unten die Ideen von zwei Schweizer Köchen zum Thema.)Es erstaunt nicht, dass Musik in der Küche auch die Köche beeinflusst. Abgesehen vom geschmacklichen Resultat, stellen einige Küchenchefs Musik an, um ihre Mitarbeiter zu motivieren. Nicht immer ohne Eigennutz – laute und schnelle Musik lässt Köche automatisch schneller schneiden. Andere Küchenchefs bevorzugen das Arbeiten in totaler Ruhe.Spence kooperiert mit bekannten Köchen wie Heston Blumenthal in London, Ferran Adria in Katalonien und Charles Michel in Bogotà.

«Essen ist eine soziale Aktivität»
Aktuell arbeitet er mit dem Koch und Multisensoriker Jozef Youssef von der Kitchen Theory in London zu­sammen. An den viermal monatlich stattfindenden Gastrophysics Chefs Table essen zehn Gäste etwa ein Hasen-Enten-­Gericht, welches mit Musik untermalt ist und durch Lichtprojektionen zwischen Hase und Ente wechselt. Spence ist hin und weg: «Die Frage ist, was die Gäste am Ende geschmacklich erlebten – Hase oder Ente? Ein Experiement in Echtzeit.» Unabhängig bleiben 
Andere Köche kommen direkt nach Oxford zu Spence ins Labor, um zu forschen. Inzwischen merken immer mehr Firmen wie Nahrungsmittelhersteller und andere Grosskonzerne, dass Gas­trologik funktioniert. Un­an­ge­nehm könnte es werden, wenn die Industrie die Studien benutzen würde, um Kunden zu manipulieren. Der Professor stimmt zu. «Absolut. Aber das kann ich weder kontrollieren noch stoppen. Fast alles, was wir erforschen, wird veröffentlicht.»Auch wird Spence öfters mit der Vermutung des Interessenkonflikts konfrontiert. «Sobald Untersuchungen von der Lebensmittelindustrie finanziert sind, kommt der Verdacht auf, wir wollten die Leute damit zum vermehrten Kauf anregen. Das ist Blödsinn,» sagt Spence. «Unilever finanzierte vor 15 Jah­ren unser Labor. Aber wir sind unabhängig und machen, was wir wollen und was uns interessiert.»  Ironie des Lebens
Inzwischen ist der Professor beim Dessert angelangt, einem Lemon-Cheesecake-Törtli. Er ist immer aufnahmefähig, auch in sei­ner Freizeit schaut er, was die Leute tun und sammelt stets Ideen für sein näch­s­tes Experiment. Oft isst er für seine Studien in Michelin-Sterne-Restaurants. «Das ist wunderbar, aber nach einer Weile bevorzuge ich wieder das Pub um die Ecke.» Und er liebt Pasta Arrabiata, weil es ihm den Geschmack von Zuhause und Behaglichkeit vermittelt. Charles Spence hat weder eine musikalische Ausbildung noch spielt er ein Instrument, ist aber professioneller Musikhörer, am liebsten Bach-Kantaten oder Glenn Gould. «Ich bin weder Koch noch Musiker. Ist es nicht ironisch, wo man endet?», meint er. «Aber es macht Spass mit Köchen und Musikern zu arbeiten. Sie wissen genau, was sie tun. Ich hingegen habe wahrscheinlich nicht mal Geschmacks­knospen!» Wirklich? Der Professor lacht. Wissenschaft macht eben doch Spass.   __________________________________________________________________________________________ TIPPS von Professor Charles Spence: 
Was passt am Besten zu:
– Schnecken in Kräuterbutter: «La vie en rose », Edith Piaf
– Fondue und Raclette: Baaba Maal & Mansour seck, Djam Leelii (senegalesische Ethnomusik)
– Klassisches BBQ mit Fleisch & Würsten: Nirvana
– Grünes Thai Curry: Da ist das Essgeschirr wichtiger 
– eine grobporige Schüssel aus Ton, designt von Reiko Kaneko 

Weitere Tipps des Professors:
– Wird ein Gericht auf einem grossen, weissen Teller ­serviert, tendiert der Gast 40 Prozent mehr zu essen.
– Das Essen schmeckt besser, wenn es mit schwerem Besteck, guter Qualität serviert wird.
– Gäste sind generell spendabler, wenn im Hintergrund klassische Musik gespielt wird. (In den USA benutzen einige, in Innenstädten gelegene Fastfood-Lokale klassische Musik zu ganz anderen Zwecken: um das Herumlungern von Jugendlichen vor dem Lokal zu verhindern.)
– Je lauter die Musik in einer Bar oder Club ist, desto mehr Drinks konsumieren die Gäste – bis zu 26 Prozent! _____________________________________________________________________________________________ See Siang Wong, Pianist und Foodblogger, Zürich GJ16 Titel Wong1Der in Holland geborene See Siang Wong (39) debütierte als 12-jähriger klavierspielender Wunderknabe mit dem holländischen Rundfunkorchester. Seither tritt er weltweit an renommierten Konzerthäusern auf, spielt mit hoch­karätigen Dirigenten und gastiert an internationalen Musikfestivals. Seine Interpretationen von Schumann über Haydn und Mozart bis zu Beethoven und Chopin sind preisge­krönt und viele seiner CDs stürmen die Klassik- Charts. Er spielt auch zeitgenössische Komponisten wie Schönberg, Stroppa oder Harvey, amtet als Dozent an der Zürcher Hoch­schule der Künste und nimmt als Juror an Wettbe­wer­ben teil. Aufgewachsen im chinesisch-indonesischen Restaurant seiner Eltern, hat See Siang Wong früh die Wohl­gerüche einer professionellen Küche eingeatmet. Seine Be­geisterung fürs Kochen zelebriert er auf seinem Food Blog (www.seesiangs.com) und 2018 gewann er die SRF-Männerküche. Wenn der ledige Wahlzürcher zu Hause kocht, hört er am liebsten Jazz und Bossa Nova, das entspannt ihn. Keine Klassik. Da müsste er als Pianist genau hinhören und könnte sich nicht mehr aufs Kochen kon­zentrieren. Anfang April war Wong Gast in der Radio­sendung Passage (SRF2), sie ist als Podcast abrufbar. In nächster Zeit stehen musikalische Projekte mit dem ­London Philhar­monic ­Orchestra und dem Radio-Sym­phonieorchester Wien an. Das kocht See Siang Wong zu folgenden ­Komponisten: Wolfgang Amadeus Mozart
Da koche ich etwas Verspieltes, leicht Verdauliches mit Biss: Ein Salat mit überraschenden Zutaten. Johann Sebastian Bach
Da passt ein deftiges und traditionelles Fleischgericht mit Rahm und Käse. Und einen schönen Roten dazu!

Antonio Vivaldi
Pizza Vier Jahreszeiten, hahaha… Da drängt sich ein Gericht aus der natürlichen, mediterranen Küche auf, etwas mit Fisch oder Fleisch und Gemüse. Frédéric Chopin
Ich empfehle etwas Romantisches aus der französischen Küche oder sogar etwas traditionell Polnisches. Chopins Lieblingsspeise war Zrazy (gefüllte Rinderroulade). Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch
Warum nicht einen Bortsch? Das war auch eine der Lieblingsspeisen des Pianisten Arthur Rubinstein – gekocht von seiner Frau Nela. _________________________________________________________________________________________ Moritz Stiefel, Koch, Restaurant Hopfenkranz, Luzern GJ16 Titel Stiefel MoritzDer GaultMillau bezeichnet ihn als Vertreter der jungen Wil­den. Moritz Stiefel startete als Koch, war und ist erfolg­reich als Caterer, Veranstalter, Küchenchef – sowie auch als DJ. Zusammen mit Ehefrau Luigina ist er 2016 mit der Über­nahme des Restaurants Hopfenkranz quasi nach Hau­se gekommen. Beide sind im Quartier rund um die Luzerner Zürichstrasse aufgewachsen. Mit dem Fokus auf regionale Produkte und der Verwertung ganzer Tiere wird im Hop­fenkranz auf hohem Niveau gekocht. Der 37-Jährige verleiht vernachlässigten Fleischstücken ­Respekt, die Kaviarküche interessiert ihn wenig. Im Hopfenkranz be­stimmt das An­gebot die Karte. Nebenbei ist er immer wieder in spannende Projekte involviert: Erst kürzlich kochte er das Dinner am Hoch­genuss 19. Als Nächstes betreibt er mit Freund Daniel Kühne die Gastronomie im Gedächtnispalast, ein zweimonatiges Theaterprojekt auf 5000 Quadratmetern in der Viscosistadt in Emmenbrücke. Des Weiteren wird es vom tatendurstigen Koch im Sommer wieder diverse Pop-up-Veranstaltungen geben. Als ehemaliger DJ ist Musik keine Unbekannte in Moritz Stiefels Leben. In seiner Küche im Hopfenkranz hört er während der Produktion öfters mal Klassik, beim Anrichten wechselt er auf elektronische, beatlastige Musik. Im Gastraum läuft wäh­rend der Essenszeiten sehr viel Soul und Funk. Diese Songs spielt Moritz Stiefel beim Essen folgender Gerichte ab: Salat aus verschiedenen Chicoreesorten:
Bitter Sweet Symphony, The Verve (1997) Lammkoteletts an Minzvinaigrette:
Mary Had A Little Lamb, Stevie Ray Vaughan (1983) Zander auf Paprikasauerkraut und Beurre Blanc:
Thunderstruck, AC/DC (1990) Luzerner Chügelipastete:
Glory Box, Portishead (1994) Innereien aller Art:
Sorry I’m Late, Kollektiv Turmstrasse (2015) Dehydrierte/Rehydrierte Rande mit Pumpernickel:
Space For Rent, Who Made Who (2005) Schokoladekuchen/Moelleux au Chocolat:
Every 1’s a winner, Hot Chocolate (1978)