Samstagabend, kurz nach Mitternacht: Roger Kalberer (30) betritt das Restaurant Igniv im Grand Resort Bad Ragaz. Die letzten Gäste haben das Lokal bereits verlassen. Das Küchen- und Serviceteam rund um Zweisternekoch Silvio Germann (30) und Gastgeber Francesco Benvenuto (37) sitzen bereits im Gastraum. Jubelnd drücken sie ihre Freude über Kalberers Besuch aus. Umarmungen und Handschläge sind verboten. Kalberer erzählt, sein Restaurant sei heute nochmals voll gewesen. Lauter Stammgäste, die sich solidarisch zeigten. Kalberer ist selbstständiger Unternehmer: Er führt den Schlüssel in Mels SG, ist Küchenchef.
GastroJournal stellte Kalberer in der vergangenen Woche in der Titelgeschichte vor: 1 Michelin-Stern, 17 Gault-Millau-Punkte, frischgebackener Vater, sein Geld steckt im Betrieb. Germann und Kalberer stossen mit einem Glas Malanser Grauburgunder aus dem Hause Wegelin aus der Dreiliterflasche an. Tiefe Blicke, Worte brauchts keine.
Samstagabend – das ist noch vor dem totalen Lockdown, also noch ehe die Regierung entscheidet, das öffentliche Leben ins Koma zu versetzen. Kalberer zeigt sich kämpferisch: Via Facebook und Instagram gibt er seine Pläne bekannt. Er, der Sternekoch, will Take-away und Home Catering anbieten. «Einfache, gute Gerichte, die wir über die Gasse verkaufen oder den Leuten nach Hause liefern können», erklärt er gegenüber GastroJournal. «Rieslingsuppe, einen Pot-au-feu, Gerstensuppe.» Oder auch die durch seinen Vater Seppi berühmten geschmorten Kalbsbäggli an Rotweinsauce. Roger Kalberer verkauft sie nun halt im Einmachglas. Ein paar Minuten in den Ofen – und schon ist das Traditionsgericht zu Hause geniessbar. Für Vegetarier gibt es Spinatravioli.
Gastronomen und Hoteliers müssen umdenken
Am vergangenen Freitag um 15.30 Uhr gibt der Bundesrat Weisungen fürs ganze Land bekannt, um die Ausweitung der Epidemie zu bremsen. Im Restaurant dürfen sich noch höchstens 50 Personen aufhalten, Mitarbeiter inklusive. Jeder Person muss eine Aufenthaltsfläche von vier Quadratmetern zur Verfügung stehen. Skigebiete müssen schliessen. Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen sind verboten.
Als Folge müssen Gastronomen und Hoteliers umdenken. Zahlreiche Hotels und Restaurants in Skigebieten schliessen bereits. Viele entfernen Tische aus dem Lokal, um genügend Distanz zwischen den Gästen zu gewähren. In den Toiletten und am Eingang stehen Desinfektionsmittel, ein Mitarbeiter ist nur dafür zuständig, zu kontrollieren, dass die maximal erlaubte Anzahl Personen im Betrieb eingehalten wird.
«Musste drei Kündigungen aussprechen»
Unternehmer reichen Dokumente ein, um Kurzarbeit zu beantragen. Viele von ihnen sprechen Kündigungen aus. So auch Walter Tobler, Geschäftsleiter von GastroSt. Gallen und Chef der Airport Altenrhein Catering GmbH: «Ich habe dem gekündigt, der am wenigsten lang bei uns ist. Der arme Mann tut mir leid. Es ging nicht anders.» Sepp Wimmer ist Wirt im Zürcher Zunfthaus zur Waag. Sein Geschäft sind Bankettanlässe. «Ich generiere 75 Prozent meines Umsatzes mit Veranstaltungen. Darum fordert uns die Situation mit dem Coronavirus sehr», erzählt er. «Ich musste drei Kündigungen aussprechen, mal schauen, wie es weitergeht. Ich analysiere die Situation täglich neu.» Das Grand Resort Bad Ragaz lässt fortan keine Gäste aus Risikoländern mehr ins Hotel. «Als präventive Massnahme haben wir Einschränkungen für Anreisen und Buchungen von Gästen aus China inklusive Hongkong und Macau, Japan, Südkorea, Singapur, Iran sowie Italien definiert», so Pressefrau Astrid Hüni. «Sämtliche Buchungsanfragen aus den betroffenen Gebieten werden nicht mehr angenommen und bestehende Buchungen wurden rechtzeitig abgesagt.»
Rolf Hiltl stellt den Gästen nebst Desinfektionsmittel Einweghandschuhe zur Verfügung. Im für das reichhaltige Vegi-Buffet bekannten Hiltl wird nun bei jedem Schalenwechsel der gebrauchte Schöpflöffel durch einen frischen ersetzt. Beim Vermieter fragt er um Aufschub der Miete an. Der Umsatz geht um 30 Prozent zurück. René Rechsteiner, Präsident von Gastro Stadt St. Gallen und Wirt im Bierfalken, bedauert, dass das Mittagsgeschäft zusammenbricht: Viele Mittagsgäste arbeiten von zu Hause aus. «Wenn es so weitergeht, müssen zwei von drei Betrieben über die Klippe springen», befürchtet er. «Die ersten wird es nach zwei Monaten erwischen.» Mark Stalder vom Restaurant Aifach in Arosa GR bietet eigentlich ein Sharing-Konzept an, die Gerichte werden am Tisch geteilt. «Nun aber wollen die Gäste nicht mehr gemeinsam aus einem Topf schöpfen. Wir verkaufen also ein Erlebnis, das die Leute nicht mehr wollen.» Eigentlich sei der März sein stärkster Monat: Zweitwohnungsbesitzer kehren in die Berge zurück und lassen es sich gut gehen. Saisonverlängernde Events wie das Musikfestival Arosa Electronica oder eine Ärztekonferenz sollten für starke Umsätze sorgen. Die Anlässe sind abgesagt. Ähnlich ergeht es den Aroser Hotels: Die Betten bleiben leer, die Buchungen werden storniert. Die meisten Betriebe geben sich kulant und erlassen den Eventveranstaltern die Stornogebühren für die Übernachtungspackages. Sie wollen damit dazu beitragen, dass die abgesagten Anlässe nächstes Jahr wieder stattfinden können.
Nachtclubs und die Frage nach der Moral
Die Tschuggen Hotel Group mit ihren Betrieben in Graubünden und im Tessin bietet den Mitarbeitern, welche zwischen Italien und der Schweiz pendeln, eine kostenlose Unterkunft in der Schweiz an. PR-Manager Rahel Rohner führt aus: «Ebenso haben wir unseren italienischen Mitarbeitenden, welche nun am Ende der Wintersaison in Arosa oder St. Moritz stehen und erst in einigen Wochen ihre Sommerstelle in Ascona antreten werden, eine kostenlose Unterbringung im Bündnerland oder im Tessin angeboten, damit sie nicht nach Hause fahren müssen.»
Die ersten Nachtclubs schliessen, andere lassen weniger Gäste rein als sonst und fragen nach deren Auslandreisen der Clubgänger in den vergangenen Wochen. Alex Bücheli, Geschäftsführer der Bar & Club Kommission Zürich: «Hinzu kommt eine moralische Komponente: Kann ich dies überhaupt noch verantworten, offen zu haben, wenn man sich bewusst ist, dass es im Club sicher zu körperlichen Kontakten unter den Menschen kommt. Doch wie steht es um unsere soziale Funktion, wäre es für die Gesellschaft schädlicher, wenn es keine Möglichkeit mehr geben würde, abzuschalten, zu tanzen und den Alltag zu vergessen?» Montag, kurz nach 17 Uhr. Der Bundesrat tritt nach langer Sitzung abermals vor die Medien. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga sagt deutlich: «Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen.» Bis zum Redaktionsschluss des GastroJournals am Dienstagmittag verzeichnet die Schweiz mehr als 2650 Infizierte. 14 sind dem Virus bereits erlegen, nur vier gelten als genesen. Es drohen Engpässe in den Spitälern. Der Bundesratsentscheid: Notstand im ganzen Land. Bis auf Lebensmittelgeschäfte und Apotheken müssen alle Läden schliessen. Ebenso wie sämtliche Gastrobetriebe bis auf Take-aways und Lieferdienste. Hotels dürfen geöffnet bleiben. Die Massnahmen gelten bis mindestens 19. April. «Nehmt diese Massnahmen ernst!», mahnt Sommaruga. Die Leute sollen möglichst zu Hause bleiben und sich nie in Gruppen aufhalten. Nur so könne die Pandemie gebremst werden. Bund garantiert rasche Hilfe Für viele Gastronomen sind die neuen Regeln ein Schock. Existenzen stehen auf dem Spiel, ohne Umsätze ist das Ersparte innert weniger Wochen aufgebraucht, einen Plan B gibt es nicht. Als Soforthilfe stellt der Bund der Schweizer Wirtschaft 10 Milliarden Franken zur Verfügung. Wirtschaftsminister Guy Parmelin verspricht rasche und unbürokratische Hilfe. Oberstes Ziel: die Lohnfortzahlung für Mitarbeitende sicherzustellen. Wer Kurzarbeit beantragt, soll innert kürzester Frist Geld erhalten. Und tatsächlich: Bereits am Montagabend meldet sich eine Gastrounternehmerin beim GastroJournal und berichtet, ihr habe soeben ein Mitarbeiter vom Amt für Wirtschaft und Arbeit angerufen. Der Betrag werde bereits übermorgen auf dem Postkonto des Betriebs sein. Selbige Gastronomin ist froh, dass sie ihren Betrieb am Montag für die kommenden Wochen schliessen kann: «Ich mache mir Sorgen um die Gesundheit meiner Mitarbeiter. Die finanziellen Sorgen sind zweitrangig. Wir führen unsere Bücher sauber, so kann ich nun das Administrative angehen. Wir werden das schaffen.» Der Zürcher Gastrounternehmer Michel Péclard garantiert seinen Mitarbeitern unverzüglich, dass diese den vollen Lohn erhalten werden. «Das kostet mich eine Stange Geld, aber ich will, dass es ihnen gut geht.» Gastronomen bieten sich als Taxifahrer und Einkäufer an Rasch zeigt sich, dass Not erfinderisch macht: Bereits am Dienstagmorgen finden sich auf den sozialen Plattformen zahlreiche Angebote von Gastrobetrieben, die neu Take-away anbieten. Viele liefern die Mahlzeiten gebührenfrei nach Hause. Derweil überlegen sich Hoteliers, ob die Aufrechterhaltung des Betriebs sinnvoll ist. Ist ein Hotel etwa in der Nähe eines Spitals gelegen, könnte es dem Spitalpersonal, das derzeit unter Dauerstress arbeitet, vergünstigte Unterkünfte zur Verfügung stellen. Deals mit den Spitälern werden gesucht. Not macht eben auch solidarisch. Ganz speziell trifft dies auf Sinnvoll Gastro zu, die in der Innerschweiz zehn Restaurant- und Hotelbetriebe führt. Durch die Schliessung der Betriebe sei nun viel Manpower ungenutzt, die Sinnvoll Gastro der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen möchte, erklärt Teilhaber Philippe Giesser. «Unsere Mitarbeiter sind froh, wenn sie in dieser Situation etwas Sinnvolles tun können, sei dies Einkaufen für ältere Menschen, Taxidienste, Mithilfe in Kitas, in Spitalküchen oder anderen Dienstleistungsbetrieben.» Rund 180 Mitarbeiter stehen bereit. Die leerstehenden Hotelzimmer der Sinnvoll Gastro will Giesser als Home-Office-Plätze anbieten. Auch eine Einrichtung von Quarantäne-Zimmern sei möglich. In den kommenden Wochen wird das GastroJournal vermehrt über Ideen berichten, die Gastronomen durch die Corona-Krise generieren – als Inspiration für Berufskollegen.
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Coronavirus: Gastronomie kämpft ums Überleben
Benny Epstein – 19. März 2020
Am Montag erklärte der Bundesrat den Notstand. Die Schweiz steht fast still. Gastronomie, Hotellerie und Tourismus sind stark betroffen. Doch bereits zeigt sich: Not macht erfinderisch und solidarisch.