Gastronomie

Sind die Mitarbeitenden glücklich, werden es auch die Gäste sein

Caroline Goldschmid – 04. April 2019
Vorgesetzte sollten die «Mitarbeitererfahrung» ihrer neuen Angestellten fördern und nutzen – das zahlt sich aus.

Mitarbeitererfahrung? «Das ist Marketing-Jargon», sagen manche. Doch hinter dem Begriff steckt viel mehr. Konkret geht es um die Erfahrungen eines Mitarbeitenden in einem Unternehmen. Wenn die Mitarbeitenden im Betrieb gut aufgenommen und richtig eingeführt werden, wenn sie die notwendigen technischen und logistischen Mittel bekommen, um ihre Aufgaben mühelos zu bewältigen, wenn die Vorgesetzten ihnen Gehör schenken und sie unterstützen, dann werden sie in der Lage sein, ihre Arbeit mit Zufriedenheit auszuführen. Das bringt Motivation, Produktivität und Unternehmen streue mit sich und senkt gleichzeitig die Abwesenheits- und Rotationsquote. Und das Unternehmen profitiert von dieser Kettenreaktion, denn es wird dadurch leistungsfähiger. In der Gastronomiebranche ist es umso wichtiger, der Mitarbeitererfahrung Beachtung zu schenken, denn die Servicequalität hängt vom Wohlbefinden der Mitarbeitenden ab, wie Coach und Autorin Corinne Samama im Interview auf den Seiten 10 und 11 erklärt. Samama weist zudem auf die aussergewöhnlich starke Konkurrenz in der Branche hin. Um Talente für sich zu gewinnen, ist es für Gastronomiebetriebe unerlässlich, mit einem fortschrittlichen Führungsstil zu trumpfen. Strenge in entspannter Atmosphäre
Das Hôtel de Ville in Crissier geniesst einen ausgezeichneten Ruf. Seit der Ära Frédy Girardet in den 1970er-Jahren wird der Betrieb jedes Jahr mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Das Restaurant, das von Franck Giovannini geführt wird, darf sich regelmässig mit Auszeichnungen aus der Schweiz und aus dem Ausland schmücken. Nebst der einwandfreien Qualität von Küche und Service ist der Betrieb auch bekannt für seinen Führungsstil und die Wissensübermittlung. «Wir pflegen ein respektvolles Management», sagt der Chef, der in einigen Tagen seinen 45. Geburtstag feiern wird. «Ich schreie nicht gerne und sorge für eine ruhige und entspannte Atmosphäre. Selbstverständlich haben unsere Gäste sehr hohe Ansprüche und es braucht eine gewisse Strenge. Doch seit wir uns nicht mehr den ganzen Tag anschreien, änderte sich die Beziehung untereinander vollends: Es entstand ein Kontakt.» Eine sanfte Einbindung
Im Hôtel de Ville wird niemand eingestellt, der nicht zuvor mindestens drei Schnuppertage im Betrieb absolviert hat. «Das ist gut für beide Seiten: Für mich ist es wichtig, zu sehen, wie jemand arbeitet, und der Arbeitsuchende muss herausfinden, ob er sich in einer Brigade von 25 Köchen wohlfühlt. Ich will Leute, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausüben und gewillt sind, zu lernen. Wir sind da, um sie auszubilden», führt Giovannini aus. Einmal eingestellt, geniessen die neuen Mitarbeitenden eine gute Ausbildung. Sie lernen jeden Bereich des Hauses kennen, damit sie sich schnellstmöglich im Betrieb wohlfühlen. «Das Servicepersonal verbringt beispielsweisedrei Tage in der Küche. Oftmals gibt es Konflikte zwischen Service und Küche. Die Aufgaben und Schwierigkeiten der anderen zu kennen, hilft, die Beziehung zu vereinfachen.» In Crissier wird viel Wert auf Integration gelegt. Die neuen Mitarbeitenden werden vom zuständigen Vorgesetzten betreut und bekommen die Möglichkeit, sich nach und nach weiterzuentwickeln. «Wer im Saal beginnt, wird nicht sofort den Service machen, sondern mit der Mise en Place beginnen. Die neuen Mitarbeitenden erhalten so die Möglichkeit, sich zuerst mit dem Haus und den Arbeitskollegen vertraut zu machen, ohne auf Anhieb den Gästen ausgeliefert zu sein. In der zweiten Woche werden sie dann in den Service eingeführt», erklärt der Chef. Die Einbindung erfolgt auf sanfte und individuelle Weise. «Einige Personen sind sehr schüchtern und brauchen mehr Zeit, um sich anzupassen. Bei uns geht es sehr menschlich zu und her. Die Mitarbeitenden können sich mit Fragen oder Probleme an mich wenden und wir suchen gemeinsam das Gespräch. Wenn die Chefs zugänglich sind, macht das einen grossen Unterschied.» «Uns gelingt die Mitarbeiterbindung»
Weitere Vorteile der im Restaurant westlich von Lausanne gelebten Mitarbeitererfahrung sind die Weiterentwicklungsmöglichkeiten. «Um mit einem stabilen Team arbeiten zu können, bleiben die Angestellten im Idealfall so lange wie möglich, mindestens aber zwei Jahre. Ich ziehe mit jedem Mitarbeitenden regelmässig Bilanz, um in Erfahrung zu bringen, ob alles gut geht oder ob er weiterziehen möchte. Wenn ich jemandem eine Freude machen kann, indem ich ihm den gewünschten Arbeitsplatz zuteile, ist das für ihn motivierend. Ich verbringe jeden Tag mit den Mitarbeitenden, was den Austausch erleichtert. Ich lasse sie nicht alleine in einer Ecke, sondern versuche, sie zu motivieren», erklärt Franck Giovannini. Der Betrieb mit den drei Sternen beschäftigt derzeit rund sechzig Personen. Die Rotationsquote ist tief. «Die Mitarbeiterbindung gelingt uns, was mich sehr zufriedenstellt. Eine gewisse Teamerneuerung geschieht auf natürliche Weise, was auch gut ist, denn es braucht von Zeit zu Zeit frisches Blut.» Das Restaurant im Hôtel de Ville in Crissier hat verstanden, dass sich die Zufriedenheit der Mitarbeitenden auf die Gäste überträgt. «Diese sagen mir jeden Tag, dass es spürbar ist, dass sich das Personal gut aufgehoben fühlt und mit Freude an der Arbeit ist.» «Es braucht zwei, um voranzukommen»
In Freiburg hauchte Chef Pierrot Ayer am 17. Januar seinem bekannten Restaurant «Le Pérolles» neues Leben ein. Der Betrieb befindet sich unweit vom einstigen Restaurant entfernt, ist Bistro und Gourmet-Lokal in einem und beschäftigt 25 Angestellte. Der Präsident der «Grandes Tables de Suisse» hat 40 Jahre Berufserfahrung und ist seit fast 30 Jahren selbstständig. Das Einstellen und die Integration von Mitarbeitern hat für ihn keine Geheimnisse mehr. Er unternimmt viel, damit sich die Angestellten wohlfühlen und hält es für wichtig, sie formgerecht zu empfangen. «Wenn ich zum Beispiel Mitarbeiter aus dem Ausland beschäftige, unterstütze ich sie bei der Wohnungssuche», erklärt Ayer. «Es kam auch schon vor, dass ich neue Angestellte am Bahnhof abholen ging, um ihnen den bestmöglichen Start in die neue Arbeitsstelle zu ermöglichen. Auch achtete ich stets darauf, was die Mitarbeitenden essen.» Pierrot Ayer gibt zu, anspruchsvoll zu sein, doch er sei auch «ein offener Mensch, der sich gerne mit den Angestellten austauscht, um gemeinsam Fortschritte zu erzielen». Auch wenn er in den Betrieben, in denen er angestellt war, stets gute Erfahrungen machte – wie im 5-Sterne-Hotel Baur au Lac in Zürich mit 250 Mitarbeitenden und einer Brigade von 40 Köchen – konnte Pierrot Ayer bei der Integration oftmals nicht auf die Hilfe von anderen zählen. «Im ‹Le Pérolles› setzen wir alles daran, damit sich die neuen Mitarbeitenden unter besten Voraussetzungen einleben können. Trotzdem genügt dies manchmal nicht. Doch kann man nicht immer mit dem Finger auf den Arbeitgeber zeigen: Es braucht immer zwei, um voranzukommen. Ein jeder muss mehr arbeiten, wenn er mehr erreichen will», sagt der Chef abschliessend. ________________________________________________________________________________________ Corinne Samama erinnert daran, dass die Leistung eines Unternehmens von einer positiven Mitarbeitererfahrung abhängt. Corinne SamamaCorinne Samama ist Coach, spezialisiert auf Führungspraktiken von Unternehmen und Gründerin von Resonance Coaching in Paris. Sie ist Autorin des Buches «Expérience collaborateur: faites de vos employés les premiers fans de l’entreprise!» (Edition Diateino). (Mitarbeitererfahrung: Machen Sie Ihre Mitarbeitenden zu den ersten Fans Ihres Unternehmens). Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem nachlassenden Engagement der Mitarbeitenden, das sich mehr und mehr zuspitzt. Für die in ihrem Buch vorgestellten Verbesserungsansätze befragte sie Unternehmen, die in den Bereichen Wachstum, Mitarbeiterengagement, Innovation und Kreativität besonders gut abschneiden. Alle haben sie eines gemeinsam: Die Mitarbeitererfahrung ist Priorität und Teil des Businessmodells. Können Sie uns die wichtigsten Schritte nennen, um im Gastgewerbe positive Mitarbeitererfahrungen zu erzielen?
Corinne Samama: Als Erstes muss festgelegt werden, welche Erlebnisse den Mitarbeitern geboten werden – so wie man auch darüber nachdenkt, was man seinen Gästen bietet. In dieser Branche ist dieser Punkt besonders wichtig, da Gastfreundschaft, Service- und Empfangsqualität versprochen werden. Vorgesetzte müssen sich zum Beispiel überlegen, inwiefern sie sich von anderen Arbeitgebern unterscheiden, und diese Aspekte hervorheben. Dann kommt die praktische Seite hinzu: Alle für den Mitarbeitenden entscheidenden Punkte müssen durchdacht werden. Dazu gehören die Einstellung, das «Onboarding» (die ersten Arbeitstage), die Integration, die Probezeit, das Feedback des Vorgesetzten, die Karrieremöglichkeiten von einem Arbeitsplatz zum anderen oder von einem Land zum anderen usw. Indem der Arbeitgeber all diese Schlüsselmomente neu überdenkt, muss er hinterfragen, ob er seine neuen Mitarbeiter auf die gleiche persönliche Weise empfängt wie seine Gäste. Des Weiteren muss er analysieren, ob ein Angestellter während seiner Anfangszeit auf enttäuschende Vorfälle stiess. Denn das Personal kann nicht mit einem Lächeln im Gesicht den Gästen einen perfekten Servicebieten, wenn es logistische oder technische Probleme antrifft oder wenn die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen nicht einwandfrei funktioniert. Wie können Schwachstellen beseitigt werden?
Indem zuerst die Mitarbeitenden befragt werden, denn sie kennen die Probleme des Arbeitsalltags am besten. Demzufolge können sie auch Lösungen vorschlagen, um den Arbeitsablauf zu verbessern. Die wichtigsten Impulse kommen von den Leuten vor Ort! Haben Sie konkrete Ratschläge, wie Vorgesetzte von Restaurants oder Hotels dem menschlichen Aspekt mehr Bedeutung beimessen können?
Nebst der Betreuung durch HR-Verantwortliche gibt es begrüssenswerte Führungspraktiken. Hier können sich Vorgesetzte von den Werten der Gastronomiebrancheinspirieren lassen: die Verhaltensweise, einander zuhören und aufeinander eingehen, sich entgegenkommen, ein regelmässiges Feedback, eine gewisse Authentizität. Ich stelle in dieser Branche oftmals einen sehr hierarchischen Führungsstil fest, ausgerichtet auf Autorität und Disziplin, der akzeptiert und respektiert wird. Doch darf dabei der menschliche Aspekt nicht zu kurz kommen. Man kann auch Gehorsamkeit erlangen, indem man dem Gegenüber mit Respekt begegnet. Sind Sie der Ansicht, dass die Mitarbeitererfahrung im Gastgewerbe einen wichtigeren Stellenwert einnimmt als in anderen Branchen?
Ja, ich denke schon. Zum einen, weil der Mitarbeiter einen direkten Kontakt zu den Gästen hat und die Qualität seiner Arbeit – sowie der Erfolg des Unternehmens– davon abhängt, was er intern erlebt. Nicht zu vergessen ist, dass in der Branche die Konkurrenz gross und die Ansprüche hoch sind. Um eine bessere Qualität und Gästezufriedenheit zu garantieren, müssen Talente gewonnen und gebunden werden. Zum anderen handelt es sich um schwierige Berufe mit anstrengenden Arbeitszeiten: Je härter der Job ist, desto wichtiger ist es, seinen Mitarbeitenden Sorge zu tragen. Wie sieht die Situation derzeit aus?
Immer mehr Arbeitgebende schreiben diesem Thema erste Priorität zu. Auf dem Spiel stehen der Ruf des Unternehmens, das Mitarbeiterengagement und letztlich die Gesundheit des Geschäfts. Mir fällt auf, dass einige Unternehmen, wie beispielsweise die Accor-Gruppe, sehr viel in diese Richtung unternehmen. Dabei werden nicht nur Strategien für das Erlangen einer besseren Mitarbeitererfahrung entwickelt, sondern auch die direkten Auswirkungen auf die Personalfluktuation, die Auslastung oder den Umsatz gemessen. Ziel ist nicht in erster Linie die Freude beim Arbeiten, sondern die damit einhergehenden positiven Auswirkungen auf die Unternehmensleistung. Stetes Ausprobieren und Analysieren ist notwendig, damit die Strategie Früchte trägt. Und doch gibt es noch Unternehmen, die sich nicht mit der Mitarbeitererfahrung auseinandersetzen, da sie diese nicht als wichtig erachten.
Das stimmt und liegt daran, dass es sehr schwierig ist, mit bestehenden Geschäftskulturen, Vorgehensweisen, Ansichtsweisen,Verhaltensweisen zu brechen. All dies erfordert Mut. Nicht zu vergessen ist, dass einige Vorgesetzte nicht verstanden haben, welche Auswirkung die Mitarbeitererfahrung auf den Erfolg des Unternehmens hat. Man mussseinen Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, ihre Arbeit gut auszuführen, damit das Unternehmen leistungsfähiger wird. Dabei gibt es nur Gewinner! Auch der Arbeitnehmer spielt eine Rolle.
Ganz genau. Das Ganze beruht auf Teamarbeit. Diese bringt Rechte und Pflichten mit sich. Das heisst, das Unternehmen verpflichtet sich, seinen Mitarbeitenden eine Anzahl Dinge zu bieten und darf als Gegenleistung anspruchsvoll sein. Das gelingt nur, wenn ein Gleichgewicht besteht. Wie sieht das Management der Zukunft aus? 
Ich denke, dass die Dinge sich positiv entwickeln werden, denn viele Vorgesetzte haben bereits verstanden, dass der Mensch nicht das Sahnehäubchen, sondern eine Notwendigkeit ist. Die Unternehmen werden je länger, je mehr auf Kollaboration und Technologie ausgerichtet sein. Die Berufe erfinden sich neu. Doch der Mensch wird stets den Unterschied ausmachen, nicht die Technologie, denn alle Restaurants und Hotels werden auf die gleiche Art ausgestattet sein. Zwei Hauptbedingungen müssen allerdings gegeben sein, damit dies gelingt: Die Generaldirektion muss von der Mitarbeitererfahrung überzeugt sein (nicht nur das Personalwesen) und alles daran setzen, das Unternehmen zu modernisieren und ein Management zu etablieren, bei dem die Angestellten mitbestimmen können. Es ist höchste Zeit, den Teufelskreis in einen positiven Kreislauf zu verwandeln. Dies ist umso wichtiger, als die junge Generation nicht mehr gewillt sein wird, irgendeiner Arbeit zu irgendeinem Gehalt nachzugehen. Die Generation Z stellt viel mehr Ansprüche als vorherige Generationen und will in erster Linie eine Arbeit ausführen, die einen Sinn ergibt. In den kommenden Jahren wird sich die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ändern und die Letztgenannten werden etwas zu sagen haben. Unternehmen, die keine positiven Mitarbeitererfahrungen vorweisen können, sollten sich Sorgen machen!