Gastronomie

Es geht um Menschlichkeit

Peter Grunder – 12. Juli 2018
Die Öffentlichkeit nimmt es sensationslüstern wahr, die Politik macht da­raus eine moralische Angelegenheit. Der Drogenkonsum in der Gesellschaft aber gründet tiefer.

Der neue Manager einer Musikband aus der Ostschweiz traut seinen Augen nicht, als er nach den Proben im Bandraum vorbeischaut. Doch die Nase bestätigt, was er sieht: Die Gruppe sitzt samt Frontmann auf dem Balkon an der Sonne und lässt mehrere Joints kreisen. Als er sich empört, traut er seinen Ohren nicht: Die Band lacht ihn herzlich aus. Und sie weist ihn schelmisch darauf hin, man fahre mit dem feinen Gras jetzt ein bisschen herunter, werde aber zum Abendkonzert Vollgas geben – dies gerne mithilfe von etwas Amphetamin oder einer Linie Koks. Das ist kein Einzelfall: Was man aus der Musikszene kennt, betrifft inzwischen fast alle Branchen – vom Banker über den Sportler bis hin zum Koch. Die Gründe dafür ortet ein Westschweizer Jungkoch im Interview mit GastroJournal beim allgemeinen Leistungsdruck: «Letztlich geht es doch darum, dass man schnell, konzentriert und präzis schickt» (siehe unten). Auch der eben veröffentlichte, im Netz verfügbare «Europäische Drogenbericht 2018» (Link im Kasten) stellt fest, «dass sich das Drogenproblem in Europa heute im historischen Vergleich nicht nur in einer besonders dynamischen Phase befindet, sondern dass die verfügbaren Daten flächendeckend auf eine hohe und in einigen Bereichen sogar steigende Drogenverfügbarkeit hindeuten». Mit anderen Worten haben Professionalisierung und Internationalisierung von Produktion und Vertrieb dazu geführt, dass illegale Drogen heute gut, günstig und einfach erhältlich sind. Das ist auch im Gastgewerbe der Fall: Dort ist weder die Beschaffung noch die Illegalität ein Thema, und selbst der Preis ist bei gemässigtem Konsumverhalten und im Vergleich zu Cannabis tragbar. Laut Drogenbericht stellen das «wichtige neue Herausforderungen für die bestehenden nationalen und europäischen Massnahmen gegen Drogenkonsum und drogenbedingte Probleme dar». Eine bestandene Wirtin, die bei Gästen und Mitarbeitenden schon alles gesehen hat, bringt die Herausforderung ganz grundsätzlich auf den Punkt: Es gehe letztlich gar nicht darum, die Grenzen zu kennen, sie abzustecken und dafür zu sorgen, dass sie nicht übertreten werden: «Es geht doch darum, die Menschen wahrzunehmen, und letztlich geht es um Menschlichkeit.» Der gängige Drogenkonsum landet damit auf einer ebenso überraschenden wie plausiblen Ebene: bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewerblicher Arbeit. Seit Menschengedenken konfrontiert und geregelt Das Gastgewerbe, wo sich Menschen begegnen und sinnlichen Genüssen hingeben, wird einerseits seit jeher staatlich reguliert. Bereits in den ältesten erhaltenen Gesetzestafeln, dem über 3750 Jahre alten Codex Hammurapi, sind Gastgewerbe und Alkohol mehrfach Themen. Andererseits haben das Gastgewerbe und die Gesellschaft entsprechend lange Übung im Umgang mit der schwimmenden Grenze zwischen Genuss und Missbrauch. Dieses Übungsfeld zu erhalten und nicht durch eine Verbotskultur zu ersetzen, ist politisch wichtig, wie der Wiener Philosoph Robert Pfaller sagt. Auch sozial sind Übungen statt Verbote notwendig, wie der Psychologe Alan Guggenbühl betont (GJ29/2012). Indes bleiben Abstürze unvermeidlich. Klassiker sind hier Alkohol und Sexualität, doch weil es Klassiker sind, gibt es zahlreiche Mittel zur Vorsorge und Behandlung – was an der Dramatik des Einzelfalles nichts ändert. Die aktuellen Entwicklungen jedoch sprengen das klassische Feld. «Es geht ohne diese Mittel kaum mehr», sagt ein Koch im Interview (siehe unten). Da müssen alle Alarmglocken angehen, und zwar beim Staat und in der Wirtschaft. www.emcdda.europa.eu Im Gespräch mit einem Koch, der Erfahrung mit harten Drogen hat

Um schnell, konzentriert und präzis zu arbeiten

Marc Seibold heisst in Wirklichkeit nicht so. Der richtige Name des jungen Koches aus der Westschweiz ist der Redaktion zwar bekannt. Doch weil der Mann mit GastroJournal nachfolgend unter anderem über seinen eigenen Konsum illegaler Drogen spricht, bleibt er anonym. GastroJournal: Wann und wie sind Sie mit Drogen in Kontakt gekommen? Marc Seibold: Das war im 2. Lehrjahr mit Arbeitskollegen aus der Küche, und es ging zuerst um Amphetamine und später um Kokain. Wie haben Sie reagiert? Zuerst war ich geschockt, aber es ist krass, wie schnell man sich daran gewöhnt, wie schnell man es braucht und wie einfach es ist, an die Drogen zu kommen, wenn man Leute kennt, die konsumieren. Waren Sie unter Druck? Von den Kollegen her überhaupt nicht, einen Gruppendruck gab es da nicht. Aber den Druck im Job gibt es natürlich, und er ist meiner Meinung nach auch ausschlaggebend dafür, dass vor allem Amphetamine und Kokain so populär sind. Ich habe das selber gemerkt, denn wenn ich konsumiert hatte, arbeitete ich besser, bekam Komplimente dafür und habe am Anfang nicht einmal gemerkt, was dahintersteckt. Sie wurden süchtig? Einerseits half es mir zu funktionieren, denn es ist einfacher und geht schneller, eine Linie Koks zu ziehen, als acht Espressi zu trinken. Andererseits war ich sehr schnell drin und süchtig, hatte aber natürlich das Gefühl, es im Griff zu haben.
Natürlich hatt ich das Gefühl, es im Griff zu haben.
Wie haben Sie sich lösen können? Ich habe gemerkt, dass es mir nicht guttut und dass ich mich verändere, und Kollegen haben mich auch darauf hingewiesen. Ich will mein Leben aber nicht kaputtmachen, und inzwischen brauche ich diesen Kick nicht mehr. Wie sieht es im Gastgewerbe aus? In meiner Schulklasse während der Lehre hatte zuletzt sicher ein Drittel Erfahrungen mit Amphetamin oder Kokain. Und generell habe ich den Eindruck, dass vor allem Kokain desto mehr im Spiel ist, je gehobener die Küche ist. Und niemand thematisiert es? Oft konsumieren die Chefs ja selber, und letztlich geht es doch darum, dass man schnell, konzentriert und präzis schickt. Man hat extremen Stress, und mein Eindruck ist, dass es besonders auf hohem Niveau und unter Druck ohne diese Mittel gar nicht mehr geht. Das ist ziemlich beunruhigend! Ja, aber es gibt kein allgemeines Problembewusstsein, sondern nur ein persönliches, das mich dazu gebracht hat, es sein zu lassen.
Oft konsumieren die Chefs ja selber.
Was tun? Das Hauptproblem sehe ich darin, dass wir im Gastgewerbe nicht besonders menschlich sind, obwohl wir doch mit Menschen zu tun haben und ihnen eine Freude machen wollen. Ist das Gastgewerbe unmenschlich? Unmenschlich ist der Druck in manchen Betrieben, und unmenschlich sind die Hierarchien, die zwei Gruppen schaffen: eine, in der man offen miteinander reden kann, und eine mit den Chefs, in der man sich etwas vormacht.
Unmenschlich ist der Druck in manchen Betrieben.
Sehen Sie Auswege? Auch wenn es sicher viele Betriebe gibt, in denen die Stimmung so gut ist, dass es ohne Drogen geht, ist mein persönlicher Ausweg, in eine andere Branche zu wechseln. Was die Branche angeht, wäre es sicher hilfreich, wenn in den Berufsschule darüber gesprochen würde.