Eigentlich ist San Bernardino ein klassisches Bergdorf. Eingebettet in die südlichen Alpenketten liegt es unscheinbar direkt neben dem Tunneleingang des San-Bernardino-Tunnels, der das Misox mit dem Rest des Kantons Graubünden verbindet. Wer nicht darauf achtet oder an der Tankstelle einen Zwischenstopp einlegt, fährt auf dem Weg in den Süden oder in den Norden daran vorbei. Ein Durchgangsort in den Schweizer Alpen, der von der Aussenwelt kaum Beachtung findet, könnte man meinen.
Erst ein zweiter Blick offenbart: In San Bernardino geht etwas. Etwas Grosses. Der eine oder andere Baukran oder die Baugrube im Dorfzentrum verrät es: Es wird gebaut. Die Pläne sind ambitioniert. Mit mehreren hundert Millionen Franken will der Tessiner Investor Stefano Artioli den Bündner Bergort aus einem Dornröschenschlaf wecken, in dem das Dorf seit mehr als einem Jahrzehnt schlummert.
Den Boom von einst wiederbeleben
Rückblick: Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist San Bernardino dank seiner Mineralwasserquellen ein beliebtes Reiseziel, vor allem bei der adeligen Oberschicht Italiens. Nach dem Bau des San-Bernardino-Tunnels 1967 erlebt das Bergdorf einen Boom. Hotels, Ferienwohnungen, Restaurants und Schneesportanlagen werden gebaut, der Ort wird zum Sommer- und Winterkurort. Diese Phase endet 2012, als wegen fehlender Investoren die Gondelbahn im Skigebiet Confin geschlossen wurde. Seither verlottern die Häuser, Läden wurden geschlossen, es wurde kaum mehr investiert. Der Glanz des einstigen Ferienorts verblasste.
Dies hat sich mit Stefano Artiolis Einstieg vor zwei Jahren geändert. Für seine Investitionen hat er das Destinationsentwicklungsunternehmen San Bernardino Swiss Alps gegründet. 2023 wurde mit dem Bau einer neuen Gondel das Skigebiet wieder in Betrieb genommen, im Sommer 2024 eröffnete das frisch renovierte Dreisternehotel Brocco & Posta (33 Zimmer) mit italienischem Restaurant und der dazugehörenden Lodge
(18 Zimmer).
Hinzu kommen insgesamt 22 bewirtschaftete Ferienwohnungen. Das kommt an. «Wir waren über Weihnachten und Neujahr über zwei Wochen lang ausgebucht», sagt Flavio Petraglio, CEO der San Bernardino Swiss Alps im Gespräch mit dem GastroJournal. Man sei sehr zufrieden mit der Entwicklung seit dem Beginn der Investitionen.
Dabei sind diese Eröffnungen erst ein Zwischenschritt eines grossen Investitionsplans. Dieser gliedert sich in insgesamt vier Phasen. Während den nächsten zehn Jahren sollen neue Hotels, Ferienwohnungen, Camping- und Clampingstellplätze und ein neues Sportzentrum entstehen. Prunkstück wird eine Fünfsterneresidenz mit Thermalbad sowie Wellness- und Spa-Bereich im Herzen des Dorfs sein.
Insgesamt sind 400 Hotelzimmer und 263 Ferienwohnungen geplant. Letztere werden als Zweitwohnungen oder als Serviced Apartments verkauft. Kostenpunkt: zwischen 8 500 und 10 000 Franken pro Quadratmeter Wohnfläche. Ein Grossteil der Wohnungen sei bereits verkauft, das Interesse ist riesig.
Ein vielfältiges Angebot schaffen
Eine Luxusdestination möchte man in San Bernardino dennoch nicht werden. «Wir wollen keine Destination im Hochpreissegment sein. San Bernardino soll klein, aber fein bleiben», betont Petraglio. Dementsprechend wird er nicht müde, zu betonen, dass San Bernardino kein zweites Andermatt werden soll. Dort pumpte der Unternehmer Samih Sawiris seit 2005 über 1,8 Milliarden Franken in das Urner Bergdorf und brachte es so auf die touristische Weltkarte. Heute spricht die Destination mit seinen Vier- und Fünfsternehotels vorwiegend gutverdienende Gäste an.
In diesem Punkt unterscheidet sich San Bernardino grundlegend vom Urner Vorbild. «Der Gästefokus liegt in erster Linie auf Familien.» Deswegen werden preiswerte Hotels wie das Brocco & Posta gebaut. Dort liegen die Preise für ein Doppelzimmer bei rund 180 Franken pro Nacht, ein Familienzimmer mit vier Betten startet bei 220 Franken.
Ergänzt werden soll dies durch ein vielfältiges Sport- und Freizeitangebot. «San Bernardino soll keine Destination für Profis, die beispielsweise eine Woche fürs Skifahren herkommen, werden. Die Angebotsmischung soll den Unterschied machen», so Petraglio. Im Winter werden neben Skifahren Langlauf, Eislauf oder Schneeschuhwanderungen, im Sommer Wandern, Biken und Kletterpark auf dem Programm stehen.
Es ist beabsichtigt, dass San Bernardino eine Ganzjahresdestination wird. Dafür will man im Winter als auch im Sommer das Angebot noch ausbauen. Die Skianlagen werden erneuert und neue Bike- und Wanderwege kommen. hinzu. Im Dorf soll es künftig auch einen Pumptrack geben.
Bevölkerung in San Bernardino einbinden
Um dieses Angebot aufrecht zu erhalten, benötigt die San Bernardino Swiss Alps Personal. Dieses zu finden, ist eine Herausforderung. «Im ersten Jahr hatten wir grosse Probleme, alle Stellen zu besetzen, da die Fachkräfte schlicht nicht da waren. In dieser Saison ist das Problem kleiner, allerdings bleibt die Herausforderung der Unterbringung des Personals», sagt Petraglio. Von den momentan 80 Angestellten stammt ein Drittel ausserhalb von San Bernardino, die meisten davon aus dem Tessin oder Italien.
Mit dem Angebot generiert die San Bernardino Swiss Alps somit Arbeitsplätze, die vor allem der Bevölkerung zugutekommen. «Es ist uns wichtig, dass wir die einheimische Bevölkerung in den Planungsprozess einbinden und ihnen die Vorteile der Investitionen transparent aufzeigen», sagt CEO Petraglio. Ein grosses Ziel sei es beispielsweise gewesen, das soziale Leben ins Dorf zurückzubringen. «Das haben wir mit der Eröffnung des Restaurants, einer Vinothek und einer Snackbar bereits geschafft», bilanziert Petraglio. Zudem seien bereits neue Geschäfte, wie beispielsweise eine Apotheke, nach San Bernardino gezogen, was den Menschen vor Ort viele Vorteile bringe.
Ganz ohne Sorgen stehen die Einheimischen dem Projekt dennoch nicht gegenüber. «Viele haben Angst vor zu viel Verkehr im Dorfkern», sagt Petraglio. Wie berechtigt diese Sorge ist, zeigt sich bei einem Dorfrundgang an einem sonnigen Sonntagmittag. Auf den kleinen Strassen des Bergdorfes herrschen autobahnähnliche Zustände, das Verkehrsaufkommen ist immens. Petraglio ist sich dessen bewusst. «Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst und werden handeln. Ausserhalb des Dorfes sind Parkplätze geplant, der Dorfkern wird in Zukunft autofrei und nur per Elektro-Shuttlebus erreichbar sein.» Die Lebensqualität und die Ruhe des Ortes sollen erhalten bleiben
Fokus Schweizer Markt
Zunächst richtet sich der Blick aber auf die Weiterführung von Phase null, der ersten der vier Phasen gemäss den Plänen der San Bernardino Swiss Alps. Diese soll bis Mitte 2026 abgeschlossen sein. Bis dahin werden im Dorf 55 Hotelzimmer und 80 bewirtschaftete Ferienwohnungen Platz für die Gäste bieten. Im Skigebiet sollen zudem die ersten Beschneiungsanlagen eine planbare Wintersaison ermöglichen.
Gleichzeitig wird das Marketing ausgebaut. Dieses richtet sich ebenso nach dem Vierphasenplan und sieht vor, in den kommenden Jahren auch Gäste aus der Zentralschweiz nach San Bernardino zu locken. «Bisher kommt der Grossteil unserer Gäste aus dem Tessin und Südgraubünden. Mit dem Eintritt in die Phasen 1 und 2 wollen wir das ändern», so Petraglio. Gut möglich also, dass im Misoxer Bergdorf bald nicht mehr nur italienisch, sondern vermehrt auch deutsch gesprochen wird.