Tourismus

Es braucht mehr als eine Fassade

Peter Grunder – 22. Juni 2017
Früher kümmerte sich die Obrigkeit stark um Gastgewerbliches. In der Schweiz hat sich das erst vor kurzem total verändert – der Staat hat überreagiert.

Kaum konnte der Mensch schreiben, regulierte er das Gastgewerbe. Was der babylonische Herrscher Hammurapi in der Steinzeit vor rund 3800 Jahren in Stein meisseln liess, war üble Paragraphenreiterei – namentlich zulasten von Schankwirtinnen. In drei Paragraphen werden ihnen drei schreckliche Todesarten für teils harmlose, teils branchenfremde Vergehen angedroht: das Ertränken für falsche Mass- oder Preisangaben, die Hinrichtung fürs Laufenlassen mutmasslicher Verbrecher, das Verbrennen fürs Eröffnen einer Schenke ohne bestimmte Qualifikation. Auf unsere Zeit und unsere Gegend bezogen, gäbe es hierzulande weitum kaum noch gastgewerbliches Leben: Auf einer Achse zwischen Zürich, Schwyz und Graubünden verlangt die Obrigkeit nämlich praktisch keine Qualifikation mehr, um Gastwirtschaften zu betreiben. Die Distanz zwischen dem babylonischen und bündnerischen Extrem ist kürzer, als einem lieb sein mag: Noch vor wenigen Jahren war es unvorstellbar, dass Schweizer Restaurants ohne kantonales Wirtepatent geführt worden wären – oder dass es hoheitlich freigestellt gewesen wäre, wo Gastwirtschaftsbetriebe eröffnet werden. Vor genau 20 Jahren erst entschied der Kanton Zürich, dass es keinen gastgewerblichen Fähigkeitsausweis mehr braucht. Vehement wehrte sich damals gegen diese Deregulierung Ernst Bachmann, inzwischen Vizepräsident von GastroSuisse, Kantonsparlamentarier im Kanton Zürich und Gastgeber im Zürcher Restaurant Muggenbühl: «Die Behörden klammern sich an Paragraphen, die Gastwirte halten sich hingegen an den gesunden Menschenverstand», warnte Bachmann, seinerzeit Präsident der Stadtzürcher Wirte. «Jeder, der nicht wegen schwerer Delikte vorbestraft ist, bekommt heute ein Wirtepatent», beklagte denn auch wenige Jahre nach der Liberalisierung im Kanton Zürich die städtische Wirtschaftspolizei: «Alle meinen, mit einem Lokal sei jetzt das grosse Geld zu machen.» Hatte es in der Stadt Zürich vor der Liberalisierung noch kaum 1300 Gastwirtschaften gegeben, stieg die Zahl rasch auf über 2000 – und bei der letzten Zählung 2014 waren es genau 2133 Betriebe. Für den bestandenen Gastgeber und Gilde-Koch Ernst Bachmann ist es nach wie vor klar, dass eine einschlägige gastgewerbliche Ausbildung unverzichtbar ist. Aber ebenso klar ist es für Bachmann auch, dass das Rad der Zeit nicht zurückzudrehen ist (vgl. Kasten). In der Tat bräuchte es letztlich eine Revision des nationalen Binnenmarktgesetzes, um den Fähigkeitsausweis schweizweit wieder durchzusetzen. Dass Bundesbern dafür Hand bietet, ist jedoch praktisch ausgeschlossen. Insbesondere die Diskussionen ums Lebensmittelgesetz und ums Arbeitsgesetz haben gezeigt, wie schwer sich die Eidgenossenschaft mit gewerblichen Selbstverständlichkeiten tut. So ist es der Politik nach wie vor weitgehend unklar, dass sich das Gastgewerbe beim besten Willen nicht an Bürozeiten halten kann, sondern immer dann arbeitet, wenn die Gäste da sind. Beim Lebensmittelgesetz wiederum erwies sich, wie wenig die persönliche Qualifikation eines Fähigkeitsausweises gilt: Heutzutage zählen Prozesse wie das Eintragen von Temperaturen in Tabellen. Solche Paragraphenreiterei ist zwar eine Beleidigung für jeden anständigen Koch und Gastgeber, aber folgerichtig. Der Systemwechsel von der persönlichen Qualifikation, die Verantwortung für ein ganzes Tätigkeitsfeld bedeutet, zu Prozessen, die Verantwortung in Teilbereiche zerhackt, hat seine Ursachen: Zum einen erinnert Ernst Bachmann daran, dass seinerzeit besonders die Systemgastronomie Druck machte, um den Fähigkeitsausweis abzuschaffen. Zum anderen dominieren heute industrielle Prozesse die Produktion – was übrigens nicht nur den Systemwechsel erklärt, sondern auch die schwache Position des Gewerbes überhaupt. Weil gastgewerbliche Gesetzgebungen in der Schweiz jedoch kantonale Angelegenheiten sind, ist die Politik etwas näher am Gewerbe – das hat letzthin die Wahl von Ruedi Ulmann, Gastgeber im Golf-Restaurant Gonten und langjähriger Präsident von GastroAppenzellerland AI, in die Innerrhoder Kantonsregierung verdeutlicht: Innerrhoden und eine grosse Mehrheit der Kantone verlangt für die Führung gastgewerblicher Betriebe denn auch nach wie vor einen Fähigkeitsausweis.