Die Esskultur einer Gesellschaft prägt was, wie und warum wir essen. Sie entscheidet massgeblich darüber, wie offen wir für Neues sind und wie stark wir an Gewohntem festhalten. Christine Schäfer (36), Senior Researcherin GDI in Rüschlikon ZH präsentiert die neue GDI-Studie «Decoding Food Culture: Wie Innovationen zu Traditionen werden», bei welcher 2100 Konsumenten aus der Schweiz und den angrenzenden Regionen der Nachbarländer (Süddeutschland, Westösterreich, Norditalien, Ostfrankreich) befragt wurden. Bei der Auswertung der Daten haben sich sechs Dimensionen herauskristallisiert, welche die Esskultur prägen. Die vollständige Studie kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
Erste Dimension: Genuss
Der Genuss umfasst die sensorischen und emotionalen Aspekte einer Esskultur. Zu den sensorischen Aspekten gehören der Geschmack, die Textur, die Farbe, das Aroma und das Aussehen von einem Nahrungsmittel oder Gericht. Zu den emotionalen Aspekten des Genusses gehören positive Gefühle, die beim Essen und Trinken ausgelöst werden. Was jedoch als Genuss empfunden wird, kann regional sehr unterschiedlich sein. Gerade bei kontroversen Lebensmitteln wie Weinbergschnecken, Austern oder Foie Gras seien die Unterschiede gross, erklärt Schäfer in ihrem Referat.
Zweite Dimension: Gemeinschaft
Gemeinschaft beinhaltet die sozialen und kollektiven Elemente des Essens und Trinkens in einer Gesellschaft. Hier geht es um das gemeinsame Erleben und Teilen von Mahlzeiten. Dies stärkt die soziale Bindung und fördert das Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenhalt, so die Studie. «Die Gemeinschaft war in allen Kulturen der wichtigste Faktor. In unserer Konsumenten-Befragung bestätigten 75 Prozent der Befragten, dass Essen für sie ein soziales Ereignis ist. Für 73 Prozent ist gemeinsames Essen die beste Gelegenheit, um Zeit mit Freunden und der Familie zu verbringen. Mit einem Restaurantbesuch ist dies per se schon gegeben.»
Dritte Dimension: Gesundheit
Gesundheit als Dimension der Esskultur meint die Förderung von körperlichem und geistigem Wohlbefinden durch die Ernährung. Diese Dimension umfasst sowohl traditionelle Ernährungsweisen wie auch moderne Trends. Gerade bei der täglichen Mittagsverpflegung sei es dabei wichtig, die Bedürfnisse der Zielgruppe genau zu kennen und abzudecken, so die Expertin. Nach dem Referat fragt Zita Langenstein, Leiterin Weiterbildung bei GastroSuisse und Moderatorin beim Innovations-Tag, ob dies denn nun bedeute, dass die Betriebe alle Kalorien und Inhaltsstoffe bei den Menüs auflisten sollen. Schäfer winkt ab: «Verschiedene Tests haben gezeigt, dass Kalorienangaben und genaue Deklarationen in einem Menü eher hinderlich für einen unbeschwerten und genussvollen Konsum sind und teilweise sogar abschreckend wirken können.» Hier sei die Devise «weniger ist mehr» gefragt.
Vierte Dimension: Kontrolle
Kontrolle und Selbstkontrolle in der Esskultur beziehen sich auf die bewusste Steuerung des Essverhaltens. «Wer Lebensmittel bewusst auswählt und Portionsgrössen einhält, ernährt sich gesünder», so besagt die Studie. Kontrolle zeige sich auch im Zählen von Kalorien, im bewussten Verzicht auf stark verarbeitete Produkte oder in ethisch motivierten Ernährungsformen wie Vegetarismus oder Veganismus. «Gastronomiebetriebe können hier mit standardmässig kleineren Portionen arbeiten und die Option eines Nachschlags anbieten», erklärt Schäfer. Gleichzeitig könne man so gezielt Food-Waste entgegenwirken.
Fünfte Dimension: Rituale
Rituale beim Essen sollen dem Essen eine Bedeutung verleihen – emotional, kognitiv, sozial, kulturell oder religiös. Sie manifestieren sich in einer Gesellschaft durch symbolische Handlungen und Zeremonien rund um das Essen. Private Anlässe wie Geburtstage, Festtage und Beerdigungen bieten auch in der Gastronomie Möglichkeiten, das Essen emotional aufzuladen und diese Rituale für die Geschäftstätigkeit zu nutzen.
Sechste Dimension: Verwurzelung
Die Verwurzelung in der Esskultur manifestiert sich als vielschichtige Verbindung zwischen Ernährungspraktiken und kultureller Identität. Sie umfasst geografische, historische und soziale Aspekte, die das kulinarische Erbe einer Gemeinschaft prägen. Gerade für die Lancierung eines neuen Konzepts oder Produkts ist es unabdingbar, diese Komponente mitzudenken. Die Studie hat gezeigt, dass Kulturen mit einer ausgeprägten Verwurzelung eher träge reagieren. Hingegen funktionieren hier Trends wie Regionalität, Farm to Table oder Saisonalität sehr gut.