Es war ein fröhlicher Abend, jener 29. Juni 2024. Die Schweiz hatte das EM-Spiel gegen Italien mit 2:0 gewonnen, die letzten Gäste des Grotto Pozzasc in Peccia im oberen Maggiatal TI hatten sich soeben verabschiedet, und Luca (54) und Claudia Patritti waren auf dem Weg ins Bett. Draussen regnete es seit Stunden. Um halb eins rief Tochter Mattea (22) an, sie feierte etwas weiter oben am jährlichen Fussballfest und Musik-Openair in Piano di Peccia. Die rund 300 Besucher konnten nicht mehr weg, die Strasse war geflutet, eine Böschung brach weg, doch im Festzelt waren sie sicher. «Sie sagte, dass wir sofort aus dem Grotto wegmüssten. Kurz darauf fiel der Strom aus, danach das gesamte Telefonnetz», erzählt der Wirt. Sein Auto war zu jenem Zeitpunkt bereits von Wasser umspült.
Sie zogen sich in den oberen Hausteil zurück und hörten, wie sich in der Dunkelheit die Naturgewalten rund um das Grotto erbrachen. «Wir haben neben dem Regen und dem Fluss vor allem das Aufeinanderschlagen grosser Steine gehört», so Patritti. Mit dem ersten Tageslicht sahen sie das Ausmass der Zerstörung: Hochwasser, Murgänge, Felsstürze und Steinschlag haben die Idylle rund um das Grotto in eine Mondlandschaft verwandelt. Seither liegt diese Masse an Material drei Meter hoch im Flussbett.
Das Wasser riss auch das Geländer des Grottos mit, Steintischplatten, Holzbänke, die neu gekauften Sonnenschirme verschwanden in den Fluten. Das sonst ruhige Flüsschen Peccia strömte vor und hinter dem Haus durch, drang aber nicht ins Innere. «Das Haus wurde um 1800 erbaut, es war einst eine Mühle und ist robust», so Patritti. Etwas oberhalb steht ein riesiger Findling, der sie vor Schlimmerem bewahrt hat.
«Nichts ist mehr, wie es vorher war»
Sie haben Glück gehabt. Fünf Menschen starben im Maggiatal, ein junger Mann wird noch immer vermisst. Aus Sicherheitsgründen durfte das Ehepaar nicht im Grotto bleiben. Die eingestürzte Visletto-Brücke in Cevio hinderte sie daran, an ihren Hauptwohnort Cadenazzo in der Magadinoebene zu fahren, sie fanden im Albergo Medici im Dorf oben für einige Tage Unterschlupf. «Die ersten Tage versucht man, allein etwas Ordnung zu schaffen, später unterstützten mich freiwillige Helfer des Zivilschutzes», sagt Patritti. «Aber es ist nichts mehr wie vorher. Meine Frau hat es emotional lange nicht geschafft, herzukommen.»
Zudem musste er alle gekühlten und gefrorenen Lebensmittel wegen des Stromausfalls entsorgen. «Dafür zahlt die Versicherung maximal 5000 Franken. Etwas Weniges davon habe ich erhalten, sie müssen erst Berechnungen vornehmen.» Patritti hat das Grotto (90 Plätze aussen, 30 innen) erst seit letztem Jahr gepachtet, der Vertrag läuft noch für einige Jahre. «Meine Versicherung zahlt da jedoch nicht, da ich der Pächter und nicht der Besitzer des Grottos bin. Ich stehe nun im Austausch mit dem Hausbesitzer, wir versuchen, eine Lösung zu finden.»
Die Mühlen mahlen langsam
Erst nach 38 Tagen, am 7. August, erhält er die Erlaubnis der Gemeinde, das Grotto wiederzueröffnen. Dank einem Interview in einem lokalen TV-Sender ist das Grotto zwei Tage später wieder rappelvoll. «Sogar Fussballfreunde aus meiner Jugendzeit, die ich über 20 Jahre nicht mehr gesehen habe, tauchten auf», sagt er mit einem Lächeln. Doch es reicht niemals, um die Saison 2024 zu retten. Es war kein gutes Jahr: An Ostern lag noch Schnee, im Juni regnete es, Mitte Oktober war Saisonschluss.
Knapp fünf Monate sind seit der Unglücksnacht vergangen. Es nagt an Patritti, dass seine fünf Mitarbeitenden für den Arbeitsausfall von der kantonalen Arbeitslosenkasse noch nicht bezahlt wurden, trotz längst eingereichter Dokumente. «Das müsste schneller gehen, für alle Betroffenen», so Patritti. Auch Tochter Mattea arbeitet im Betrieb mit.
Er verliert viel Geld dieses Jahr. Wie 46 ebenso von Unwettern betroffene Mitgliederbetriebe von GastroSuisse in neun Kantonen, erhält er 1000 Franken aus dem GastroSuisse-Wohlfahrtsfond und 500 Franken vom zuständigen Kantonalverband GastroTicino. «Jeder Franken hilft», sagt Patritti. «Ich persönlich habe mindestens 20 000 Franken verloren.» Den Zustupf sieht er als kleinen Lohn für sich. «Wir freuen uns, dass wir gemeinsam mit den Kantonalverbänden 47 direktbetroffene Mitglieder mit einer Gesamtsumme von 70 500 Franken unterstützen können», sagt Patrik Hasler- Olbrych, stellvertretender Direktor von GastroSuisse. Das sind alles Betriebe, die wegen den heftigen Unwettern unverschuldet von einem Arbeitsausfall betroffen waren und dadurch in eine existenzielle Not geraten sind. «Der Beitrag an die einzelnen Betriebe deckt nur einen kleinen Teil des Schadens. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass jede Hilfe zählt.»
Emotional sehr belastend
Im Maggiatal wurde nach dem 29. Juni ein Solidaritätsfond ins Leben gerufen. Patritti hofft, auch davon etwas zu bekommen. Zum Glück bezieht seine Frau einen Lohn, sie arbeitet als Lehrerin, das federt das Nötigste ab. In den Wintermonaten stellt er jeweils Prosciutti, Coppa, Pancetta, Trockenfleisch und Salami für das Grotto her. Dieses Jahr verkauft er vermehrt an Private und hilft bei einem Catering als Koch aus, um etwas Einkommen zu generieren. Daneben erledigt er Administratives, hackt Holz für das Grotto. An Ferien ist dieses Jahr nicht zu denken.
All das nimmt ihn emotional mit. Die Ungewissheit, wann und ob er welche Unterstützung bekomme, mache Angst. Da seien viele Fragen offen. «Man verliert das Vertrauen und die Motivation.» Ob drinnen oder draussen: Noch immer liegt überall staubfeiner Sand. Auch die Steinwüste ist noch da. Patritti weiss nicht, wann der Kanton mit der Räumung beginnt. So wie vorher werde es nie mehr sein. Kürzlich hat man im Lago Maggiore einen seiner Bänke gefunden.
Dafür leben Gastronomen!
Er ist hier verwurzelt. Die ersten Jahre seiner Kindheit wuchs er ein paar Kilometer weiter oben in San Carlo auf. Seine Eltern waren Pächter im Ristorante Basodino, die Grosseltern standen in der Küche. «Eine schöne Kindheitserinnerung, 2013 kehrte ich zurück, und übernahm das Ristorante Basodino während zehn Jahren als Quereinsteiger, Pächter und Koch.» Gelernt hat Patritti Maurer, später bildete er sich weiter und arbeitete als eidgenössisch diplomierter Jäger und Fischer für den Kanton Tessin. Als dann das Grotto Pozzasc zu pachten war, zögerte er nicht lange – das Grotto hatte ihm schon immer gefallen.
Die fahle Novembersonne taucht die Steinwüste in ein helles Grau. «Ich weiss noch nicht, was die Zukunft bringt. Vor der unheilvollen Nacht des 29. Juni war das Grotto stets gut besucht», sagt Patritti nachdenklich. Von regionalen Gästen aus dem Tal, aus Locarno, dem Sottoceneri, aber auch von vielen Deutsch-
schweizern und Deutschen. Täglich servierte er Tessiner Spezialitäten Polenta, Brasato, auch Trippa oder Formaggi.
«Wir haben stets viele Komplimente und schöne Feedbacks bekommen.» Neben dem wirtschaftlichen Aspekt sei es doch genau das, wovon und wofür Gastronomen lebten! «Ich wünsche mir so sehr, dass das Grotto Pozzasc wieder so wird, wie es vorher war.»
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Bei Elementar-Ereignissen: Gastrosuisse Hilft
Nach den Unwettern im Sommer 2024 erhalten 47 betroffene Mitgliederbetriebe von GastroSuisse aus den Kantonen Tessin, Wallis, Graubünden, Schaffhausen, Waadt, St. Gallen, Schwyz, Luzern und Basel-Landschaft je 1000 Franken aus dem Gastro-Suisse-Wohlfahrtsfond und je 500 Franken vom zuständigen Kantonalverband – insgesamt sind dies 70 500 Franken.