Franco Marchesoni, Ihr Restaurant wurde vom Icomos zum historischen Restaurant des Jahres 2025 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen dieser Titel?
Franco Marchesoni: Es ist für mich und mein Team eine grosse Überraschung. Wir hätten unter keinen Umständen mit der Auszeichnung gerechnet. Umso schöner ist es, dass wir diese Auszeichnung erhalten.
1905 gründete Salvatore Baratella das Restaurant, in dem wir heute sitzen. Was macht für Sie dieses Haus, dieses Restaurant, so speziell?
Zunächst ist für mich sehr speziell, dass ich der vierte Wirt dieses Hauses sein darf. Jeder Wirt war damit im Schnitt jeweils fast 30 Jahre im Baratella tätig. Weiter hat sich in den letzten 120 Jahren am Angebot nichts verändert. Wir bieten praktisch noch immer die gleichen Vor- und Hauptspeisen und Desserts an wie damals.
Wenn ich mich hier so umschaue, scheint auch das Interieur die Zeit überdauert zu haben.
Das ist tatsächlich so. Die Gaststube sieht praktisch so aus wie damals, als Baratella das Restaurant eröffnete. Die Tische, die Stühle, die weissen Tischtücher, die Garderobe: Alles ist noch so wie vor 120 Jahren. Die Wände wurden immer wieder gestrichen, aber die Farbe ist immer noch dieselbe wie damals.
Der Geist von Salvatore Baratella bleibt diesem Restaurant also erhalten.
Auf jeden Fall. Der Gründer ist nicht nur mit seinem Namen, sondern auch im Gebäude selbst präsent. Das Erhalten des Interieurs lässt nicht nur sein Erbe weiterleben, sondern gibt auch den Gästen eine gewisse Kontinuität. Der Gast weiss: Wenn er ins Baratella geht, wird er genau das bekommen, was auch seine und ihre Vorfahren und die zuvor im Baratella bekommen haben.
Und die Gäste scheinen das zu schätzen. Ich las, dass viele Gäste seit Jahrzehnten hierherkommen. Warum ist das so?
Vielfach, weil die Gäste bereits mit ihren Eltern oder Grosseltern Kunden im Baratella waren. Diese Erinnerungen bringen die Gäste immer wieder zurück. Das gilt auch für viele Studentinnen und Studenten, die in St. Gallen studiert, weggezogen und zurückgekehrt sind. Viele von ihnen kennen das Baratella und kommen immer wieder hierher.
Wie zeigt sich das bei der Auslastung des Restaurants?
Wir sind immer sehr gut ausgelastet. Und das, obwohl das Restaurant an einer viel befahrenen Hauptstrasse liegt. Man muss aber sagen, dass 80 Prozent der Gäste Stammgäste sind. Das hilft uns enorm.
Viele Stammgäste bedeuten, dass Sie auch in der Küche vieles richtig machen. Was macht diese Küche aus?
Die Gäste schätzen unsere einfache, aber herzhafte und authentisch-italienische Küche. Wir verzichten bewusst auf Pizza und servieren traditionelle italienische Gerichte wie zum Beispiel Ossobuco alla veneziana oder Fegato di vitello. Dazu kommen unsere Pastagerichte, die bei unseren Gästen sehr beliebt sind. Die Pasta stellen wir selber her.
Die Küche liegt Ihrer Familie im Blut. Ihr Vater stieg 1950 als Koch im Baratella ein, 1963 übernahm er den Betrieb. Warum, glauben Sie, hat er sich damals für diesen Schritt entschieden?
Ich denke, mein Vater war damals sehr froh darüber, dass er ein Restaurant übernehmen durfte. Denn er hatte als Einwanderer sicher nicht damit gerechnet. Das Baratella wurde für ihn in kürzester Zeit zu einem Zuhause und damit auch für mich und meine fünf Geschwister. Das ist für mich persönlich auch heute noch so. Das Baratella ist mein Zuhause und wird es für immer bleiben.
Das gilt offenbar auch für Ihre Mitarbeitenden. Wie ich erfahren habe, kämpfen Sie, anders als viele andere Betriebe in der Schweiz, nicht mit Personalmangel. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Ich darf mich tatsächlich zu den glücklichen Wirten zählen, die langjährige Mitarbeitende im Betrieb haben. Bei uns ist es so, dass die Mitarbeitenden lange im Betrieb bleiben. Viele sind bereits seit vielen Jahren bei uns. Das hat Tradition. Als mein Vater noch das Restaurant führte, arbeitete eine Serviceangestellte im Betrieb, die über 50 Jahre lang im Betrieb blieb. Aufgehört hat sie erst, als sie fast 80 Jahre alt war. Das Wichtigste für mich ist: Ein Angestellter oder eine Angestellte ist bei mir genau so viel wert wie ein Gast. Damit erreiche ich, dass alle Angestellten jeden Tag gerne zur Arbeit kommen.
Das alles schaffen Sie trotz Sechstagewoche.
Genau. Da ich insgesamt 15 Angestellte beschäftige, lässt sich dies super bewerkstelligen. Hinzu kommt, dass in den Wohnungen über dem Restaurant Studentinnen und Studenten wohnen. Diese müssen im Notfall im Restaurant mithelfen, damit sie überhaupt in den Wohnungen leben dürfen. Es sind keine grossen Pensen. Das hilft uns aber sehr, wenn jemand krankheits- oder unfallshalber ausfällt.
Und bindet Sie langfristig wieder an den Betrieb.
Richtig. Zudem ist es eine gute Werbung für uns, wenn unser Konzept nach aussen getragen wird.
Kehren wir zum historischen Aspekt des Baratella zurück. Der Betrieb wird oft als «Kronenhalle der Ostschweiz» betitelt. Was sagen Sie zu dieser Bezeichnung?
Ich muss vorausschicken, dass ich auf Drängen eines Gastes bereits einmal in der Kronenhalle war und sehr angetan war von meinem Besuch. Der Vergleich hinkt allerdings ein bisschen, denn ich bin der Ansicht, dass wir nicht in der gleichen Liga spielen – nur schon preislich nicht (lacht). Aber die Herzlichkeit im Service und das Bewusstsein für Tradition und gutes Essen kommt in der Kronenhalle genauso rüber, wie es dies – hoffentlich – auch bei uns tut.
Gewiss tut es das, sonst blieben die Gäste fern. Ihr Betrieb gilt in der Stadt St. Gallen als eine Institution. Welche Rolle rechnen Sie dem Baratella in der städtischen Gastroszene zu?
(Überlegt) Schwierige Frage. Ich denke, es gibt wohl kaum ein anderes Restaurant in der Stadt St. Gallen, das Kultur und Kulinarik so stark miteinander verbindet, wie es das Baratella tut. Wir gelten als Treffpunkt der Künstlerinnen und Künstler der Stadt und der Region. So waren beispielsweise die beiden Galleristen Franz Larese und Jürg Janett regelmässig bei uns zu Gast. Zudem war der Kunstverein der Stadt mit seinen Vernissagen in unserem Restaurant sehr präsent.
Kunst ist ein gutes Stichwort. Seit 1976 gibt es im Baratella Speisekarten, die von Künstlern mit Bildern gestaltet werden. Wie kam es dazu?
Die Idee entstand tatsächlich auf Initiative der Erker-Galeristen Franz Larese und Jürg Janett. Sie wollten diese Kunstaffinität des Restaurants bewahren und Künstlern eine Plattform bieten, um ihre Kunst zu zeigen.
Dieses Erbe führen Sie seit der Übernahme des Restaurants 1989 weiter. Alle vier Jahre erscheint eine neue Karte. Warum ist es Ihnen ein Anliegen, das weiterzuführen?
Mich haben die Karten bereits als Kind fasziniert. Das Bild auf der Vorderseite der Karte gibt dem Gast eine besondere Einladung, die Karte zu öffnen. Zudem hat mich die Art und Weise, wie die Karten gedruckt werden, immer schon fasziniert. Die gesamte Karte wird bis heute mit Stindrucken angefertigt. Es ist zwar eine teure Angelegenheit, lohnt sich aber allemal. Wir lassen einzelne Karten von den Künstlerinnen und Künstlern signieren und verkaufen sie. So finanzieren wir uns den Druck der nächsten Karte.
Wie läuft der Entscheidungsprozess dafür, wer die neue Karte gestalten darf?
Ich kenne einen Gast, der sehr kunstinteressiert ist und dadurch ein grosses Netzwerk besitzt. Er empfiehlt mir jeweils ein paar Künstlerinnen und Künstler und entscheidet dann mit, wer die neue Karte gestalten darf. In diesem Jahr hat Hans Schweizer, der unter anderem für seine Olma-Plakate bekannt ist, die neue Karte entworfen. Diese wird am 7. Dezember an der Vernissage im Baratella präsentiert.
Kunst und Gastronomie verschmelzen im Baratella miteinander. Wie passen diese beiden Komponenten Ihrer Meinung nach zusammen?
Kunst und Gastronomie stehen einander sehr nahe. Allein schon wegen der Vernissagen, die mit Getränken und Mahlzeiten begleitet werden. Daneben treffen sich Künstler inner- und ausserhalb der Galerien oftmals in Gastronomiebetrieben, tauschen sich dort aus und knüpfen Kontakte. Kommt hinzu, dass das Kochen im Endeffekt eine Art von Ausdruck, von Kunst, ist.
So wird die Kunst weiterhin im Baratella ihren Platz haben. Wie blicken Sie in die Zukunft des Betriebs?
Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich bereits vor meiner offiziellen Pensionierung ein Nachfolgeduo für das Baratella gefunden habe. Da ich keine Kinder habe, werden zwei meiner bisherigen Angestellten den Betrieb übernehmen. Dies wird ab dem 1. Januar 2025 der Fall sein.
Ist das damit das Ende der Ära der Familie Marchesoni im Baratella?
Nicht ganz. Ich werde weiterhin in der Küche arbeiten und dem Baratella treu bleiben. Mir gefällt die Arbeit in der Küche sehr – und diese Aufgabe möchte ich auch weiterhin in meinem Leben beibehalten.
Was wünschen Sie dem Betrieb für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass der Betrieb auch unter der neuen Leitung ein Treffpunkt für alle bleibt und seinen Charme und seine Philosophie nicht verliert.